nüchtern,
Adj.,
teils ohne finales
-n
:
nüchter
, mehrfach mit Suffix
-lich
:
nüchterlich
.
– Zur Etymologie und zu den Lautformen s. ;
Pfeifer
2000, 934
;
Kluge/S.
2002, 657
.
1.
›nüchtern, noch nichts gegessen habend, auf nüchternen Magen, mit nüchternem Magen‹; meist auf den Zustand des Menschen vor dem Frühstück, seltener von abendlicher Voressenszeit gesagt; mit anderer Bezugsgröße auch z. B. auf
speichel
(mehrfach),
brunz
›Urin‹ und andere substantivisch gefaßte Größen bezogen, dann jeweils Tendenz zu ›frühmorgendlich‹.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  1; Orientierungsfeld: .
Gegensätze:
.
Syntagmen:
ein tier n. sein, j. n. sein / bleiben
;
n. reden, etw. n. einnemen / empfangen (das sacrament) / essen
(z. B.
enzian, hindläufte
)
/ trinken
(z. B. eine Arznei,
wasser
, mit partitivem Gen.obj.:
des brunnen
),
in den mund nemen
(z. B.
kubeben
),
die gemeinde n
. ›frühmorgendlich‹
halten, die würm eines saftes n. sterben, j. js. (des herren) nüchterlich vol werden
;
der nüchterne brunz
›vor dem Frühstück gelassener Harn‹,
der nüchterne
›frühe‹
morgen, der nüchterne speichel
›Morgenspeichel, Speichel eines Nüchternen‹,
die nüchterne
›frühmorgendliche‹
stunde, das nüchterne trünklein
ein Trunk auf nüchternen Magen (zeichenhaft für heimliche Genießer);
morgen(s) / abend(s) nüchtern(lich)
.
Wortbildungen:
nüchtere
1.

Belegblock:

Enders, Eberlin ([
Wittenb.
]
1523
):
wann die herren von Ulm [...] behuͤlten ain frommen geleerten man zepredigen auff niechtere stund, jm geben ain noturfftige narung, das were ain guͦt hailsam ding.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
241, 6088
(
Magdeb.
1608
):
Derselben [Hindleuffte
›Wegwarte‹]
solt er alle morgen / | Drey nuͤchtern essen.
J. W. von Cube. Hortus
77, 36
(
Mainz
1485
):
Bdelliu͂ gemischet mit nuchtern speych vnd darvß gemacht eyn plaster vnd vff den buch geleyt vnder den nabel bricht den steyn in der blasen.
Ebd.
86, 11
:
Des safftes von kerbeln mit essig gedru͂cken nuchtern sterben die spolwuͦrm.
Niewöhner, Teichner
560, 14
(Hs. ˹
nobd.
,
E. 14. Jh.
˺):
ez ist ein lust, wir sullen gan | und ein nuhters trunkel han.
Keil, Peter v. Ulm
77
(
nobd.
,
1453
/
4
):
nym des smerbes iij virdung vnd quecksilber, der do mit nüchter speichel getöt sey.
Ebd.
209
:
seud daz puluer in gutem wein: daz trinck nüchtern.
Bihlmeyer, Seuse (
alem.
,
14. Jh.
):
Meniger mensch wirt min
[des
herren
]
nuͤchterlingen vol, und maniger gewinnet min ob dem tische mangel.
Ott-Voigtländer, Rezeptar
207r, 9
(Hs. ˹
nalem.
,
um 1400
˺):
iss enczianen gepúluert vff / ainer snitten abends vnd morgencz nuͤhterlingen.
Fuchs, Murner. Geuchmat
2043
(
Basel
1519
):
Hastu ein otem, der nüt sol, | So red nit nuͤchter, sunder fol.
Sudhoff, Paracelsus (
um 1520
):
kalt mit warmem, feucht mit truknem, die völle mit auslerung, nüchtere mit anfüllung.
Maaler (
Zürich
1561
):
Nuͤchter / Hungerig. [...]. Nuͤchteren spiechel / Speichel von einer nuͤchteren person.
Morrall, Mandev. Reiseb.
108, 6
(
schwäb.
,
E. 14. Jh.
):
ir soͤllent wissen welcherlay siechtagen ain mensch hatt, wenn es denn des brunnen trystund trincket nüchtern, so wúrt er gesund.
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. (
oobd.
,
1349
/
50
):
dar umb ist daz tier alle zeit nüehtarn und ist doch starch an dem leib.
Bastian, Runtingerb.
2, 24, 1
(
oobd.
,
1392
):
ich sol alle morgen nuͤchtern in den muͤnt nemen fumf chorn kubeben mit zukker czogen oder ploz.
Eis u. a., G. v. Lebenstein
30, 21
(
oobd.
,
1. V. 15. Jh.
):
Das wasser hat die tugendt, wer es des morgens nuchtern trinckt, den ist es behutten vor den hohen sichtung.
Thiele, Chron. Stolle ;
Eis u. a., a. a. O.
53, 15
;
Gleinser, Anna v. Diesb. Arzneib.
1989, 212
.
2.
›nüchtern, keinen Alkohol getrunken habend, nicht unter Alkoholeinfluß stehend‹.
Phraseme:
nüchtern oder vol
o.ä. Formel für die Irrelevanz des Zustandes eines Anzeigenden angesichts des von ihm gemeldeten Deliktes;
so als ob / wanne er nüchtern
o.ä. (z. B.
gewesen wäre
), dient der Kennzeichnung des Vergleiches zweier Zustände (
nüchtern
oder
vol
) e. P.
Bedeutungsverwandte:
 1; vgl. .
Gegensätze:
(s. v.
2
 1),  1,  1, , .
Syntagmen:
j. n. sein
(z. B.
zu der messe
);
seine bücher n. schreiben, sich n. saufen
(objektbezogenes präd. Attr.),
(nicht) n. von der tafel gehen
;
jn. niemalen n. sehen
;
nüchterner weise
; subst.:
nichts nüchternes vermögen
.

Belegblock:

Dedekind/Scheidt. Grob.
186, 20
(
Worms
1551
):
sorg daß keiner lehr auff steh / | Vnd nuͤchtern von der taffel geh.
v. d. Lee, M. v. Weida. Spigell
72, 15
(
omd.
,
1487
):
mancher Jn trunckener weiße etliche sunde thuͥtt dÿe von ÿm. so er nuͥchtern were woll nachbliebe.
Sachs (
Nürnb.
1555
):
Das offt ein mann inn trunckenheyt | Thut wider scham, zucht und auch ehr, | Das nüchter weis gschech nimmer mehr.
Franck, Decl.
341, 17
(
Nürnb.
1531
):
ein ander nitt vnhoͤflicher Poet / sprechende / Ich vermag nichts nüchterns / so ich trinck / lauffen mir fünffzehen Poeten entgegen.
Ebd.
348, 7
:
Eben derselb Plato heist die praut vnd praͤutgam kinder zeugen vnd nuͤchtern sein / das die empfangen gepurt werde starck vnd ruͤwig.
Bolte, Pauli. Schimpf u. Ernst (
Straßb.
1522
):
zwen Metzgerknecht, bliben sitzen bei dem Wein biß an den Morgen, das man zuͦ Meß luͦtet, wan si hetten sich wider niechter gesoffen
(ironisch).
Lauater. Gespaͤnste
18r, 8
(
Zürich
1578
):
wie sich offt findt daß einer in einer wynfüchte wyber vnd toͤchtern anstrengt / welches er nit doͤrffte in siñ nem͂en weñ er nuͤchter vnd laͤr were.
Haszler, Kiechels Reisen (
schwäb.
,
n. 1589
):
do wür doch jn düe 11 tag do stüllgelegen, ine niemals nüchter gesehen, derowegen düe Grüechen trinckenshalber wol mütt unns Teütschen accordiren.
Chron. Augsb. (
schwäb.
, zu
1563
/
4
):
dann er sich gar oft beweinet, daß er mer truncken, dann nuͤchter war.
Winter, Nöst. Weist. (
moobd.
,
17. Jh.
):
wer seinen nechsten, [...] in hurerei und unzucht bezeuget voller oder nichter weiß und kan solches nicht darthuen, der [...].
Siegel u. a., Salzb. Taid. (
smoobd.
,
n. 1623
):
sollen auch die underthonen kaines wegs bezechter sondern niechter weis zu den [...] gricht komen.
Reichert, Gesamtausl. Messe
12, 1
;
3.
›maßvoll, enthaltsam, sich jeder Übertreibung vor allem mit Bezug auf Essen und Trinken enthaltend‹ (damit als Spezialisierung an 1 und 2 anschließbar); verallgemeinert mit Bezug auf sittliches Verhalten sowie auf die gesamte Lebensführung gesagt, damit z. B. auch: ›frei von religiöser Ekstase‹ (mit dieser Nuance offen zu 4).
Gehäuft Texte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Bedeutungsverwandte
(bzw. Orientierungsfeld):  2,  1, (s. v. , Adj., 2), (Adj.) 3, ,  3, , , , , , .
Gegensätze:
 2, .
Syntagmen:
j. n. sein
(z. B.
zum gebet, zu aller zeit
),
sich n. halten, j., der leib, die begerung n. bleiben
;
n. essen / trinken / leben, jn. nüchternlich füren, got n. bitten
;
jn
. (z. B.
die bauern
)
n. machen
(objektbezogenes präd. Attr.);
der nüchterne
›einfach lebende‹
Christus / wandel, das nüchterne gemüte
.
Wortbildungen
nüchtere
3 (dazu bdv.: , ).

Belegblock:

Schade, Sat. u. Pasqu. (o. O.
1521
):
Wer not, du [Luther] hetest rat und möchst erkennen, | Wen got der vater wöll benennen, | Und ganz und gar niechter | Werest bitten got den vater.
Schöpper (
Dortm.
1550
):
Temperans. Mässig abbruͤchig ¶ nuͤchtern.
Luther, WA (
1520
):
Da gehoren her alle lere von der keuscheit, fasten, nüchter, messig sein, beeten, wachen, arbeyten, und wo mit keuscheit behalten wirt.
Kehrein, Kath. Gesangb. (
Köln
1583
):
Die keusche lieb dich
[den
Schöpffer
]
lieb hertzlich, | Das nuͤchter Gmuͤt anbete dich.
Rosenthal. Bedencken
1, 28, 11
(
Köln
1653
):
daß wir absagen [...] den Weltlichen Begirden / vnd leben nuͤchtern / gerecht / vnd andaͤchtig.
Bömer, Pilgerf. träum. Mönch (
rhfrk.
,
um 1405
):
Wie ir myne liebe behalden muͤssent: | Essen und drincken nuͤchterlich.
Strauch, Par. anime int.
62, 35
(
thür.
,
14. Jh.
):
dri fruchte di ordenen den menschin zu ume selbir. daz erste ist maze, daz andere intheltnisse, daz dritte vollincumenheit, [...], daz die begerunge ie nuchtiren blibe.
Neumann, Rothe. Keuschh.
2103
(
thür.
,
1. H. 15. Jh.
):
sant Pauwel zu den Romern schribet: | gedenckt das ir nuchtern blibet.
Voc. Teut.-Lat.
x vijr
(
Nürnb.
1482
):
Nuchterer messiger od’ vaste͂der.
Franck, Decl.
351, 41
(
Nürnb.
1531
):
vnd den armen nuͤchtern Christum mit vollen auffgeblassen backen predigen
(von
Pfaffen
gesagt).
Vetter, Pred. Taulers (
els.
,
E. 14. Jh.
):
[unser herre] enzúhet [...] in [frúnden] daz bevinden und den trost und den starcken wine und machet sú das sú also trurig werdent also sú ie fro wurdent, und also nuͤhtern also sú ie truncken wurdent, so in diser trost und dis bevinden beginnet froͤmde werden.
Kurrelmeyer, Dt. Bibel (
Straßb.
1466
):
sy [weisheit] wais alle ding vnd vernymtz: vnd furt mich temperlich
[Var. um 1470-80:
nüchterling(en)
; 1483-1518:
nuͤchter
; nd. Bibel 1478:
soberliken
;
Luther
1545:
messiglich
]
in meinen werken.
Goldammer, Paracelsus
2, 424, 22
(
1532
/
4
):
Das fasten und casteien [...] geschicht in der meinung, darumb daß der leib soll nüchter bleiben und dester minder mit sünden sich beflecke.
Niewöhner, Teichner
184, 34
(Hs. ˹
moobd.
,
1360
/
70
˺):
so sent in
[den
pawrn
]
got ein schawr slag | und ungelukch in maniger acht | daz ers wider nuͤchtern macht.
Winter, Nöst. Weist. (
moobd.
,
1674
):
solle [...] underthonen, inleit und pürgknecht und dienstbothen ain gott wollgefelligen, christlich-catholischen. erbarn und niechten wandl führn.
Ebd. (
1. Dr. 16. Jh.
):
ob es im in zorn sei widerfaren, [...] oder niechtern, oder ob es sei gewesen bedächtlich oder unbedächtiklich.
4.
›besonnen, überlegt, kontrolliert als Haltung wie als Handlung‹; eng an 3 anschließbar, im Unterschied zu diesem aber eher von den rationalen Kräften des Menschen gesagt; offen zum Ausdruck aller positiven Qualitäten des Menschen.
Bedeutungsverwandte
(bzw. Orientierungsfeld): , , , , , , .
Syntagmen:
j. n. sein / werden
;
nüchterlich regieren / richten
;
der nüchterliche mensch, das nüchterliche aufsehen
;
n. an den sinnen
.

Belegblock:

Luther, WA (
1544
):
So muͤsset jr nuͤchtern sein und wachen, nicht allein mit dem leibe, sondern viel mehr nach dem Geist und seelen.
Franz u. a., Qu. hess. Ref.
4, 175, 16
(
hess.
,
1528
):
so seind wir schuldig, got vor sei zu bitten, ob sei der mal eing wolten nuchtren werden.
Stambaugh, Milichius. Zaubert.
11, 27
(
Frankf./M.
1563
):
Seid nuͤchtern unnd wachet / denn ewer widersacher der teuffel geht umbher wie ein bruͤllender Loͤw.
Vetter, Pred. Taulers (
els.
,
E. 14. Jh.
):
Der nuͤchterliche mensche der tuͦt sin werg lieplichen und weckerlichen und vernunfteklichen.
Ebd. (
1359
):
darumb sprach sante Peter [...]: ,ir súllent sin nuͤchtern und wacker‘, das ist: uwer bescheidenheit sol nuͤchterlingen richten und regieren des menschen werg und sine wort und sin leben.
Piirainen, Stadtr. Kremnitz
52
(
mslow. inseldt.
,
1537
):
derhalbe(n) wol von noten ist, ein vleÿsigs nuchters vnd raÿchsinigs auff alle seÿtten beÿ tag vnnd nacht aufsehen zu haben.
Schönbach, Adt. Pred. ;
Kurrelmeyer, Dt. Bibel Var.;
Bauer, Haller. Hieronymus-Br.
16, 10
;
42, 7
.