V.
(Präteritopräsens; zu mhd.
müezen
›sollen, müssen‹
; vgl. Lexer 1, 2217); zur Flexion:
Frnhd. Gr. § M
145
; zu möglichen motivationellen Beziehungen zwischen den einzelnen Bedeutungsansätzen, auch zur motivationellen sowie etymologischen Verbindung mit
musse
s.
Dwb 6, 2748
ff.
– 1-6 Modalverb (
5 epistemisch); 7 Teil der Futurperiphrase.
1.
›etw. tun müssen, aufgrund von Zwängen verschiedener Art und Ursache etw., das im Verb genannt ist, zu tun verpflichtet, gezwungen, gehalten sein‹; offen zu
2.
Syntagmen
, jeweils mit Subj. d. P., z. B.:
j. wachen / seufzen / zittern / weinen, fleis anwenden, etw
. [tun]
m
., z. B.
ins kloster gehen, etw. dingen / bekennen, ein haus aufreissen, zins / tribut, die münze geben, eine busse dulden, die schuld bezalen / wiedertun müssen
.
Belegblock:
Helm, H. v. Hesler. Apok.
8266/8
(
nrddt.
,
14. Jh.
):
die lute musten ab | Treten der alt gewonten site.
Luther, WA
10, 1, 1, 725, 21
(
1522
):
sie mustenß thun, das wol than seyn sol.
Sievers, Oxf. Benedictinerr.
37, 26
(
hess.
,
14. Jh.
):
ob siz dunt, sie muzzen ir busze dar umme dulden.
Rupprich, Dürer
1, 158, 28
(
nobd.
,
1520
):
ich hab jhrem arczt, dem docter, müssen ein hauß auffreÿsen.
Schmidt, Rud. v. Biberach
5, 1
(
whalem.
,
1345
/
60
):
dar vmbe so mvͤssen wir von notturft mit vnserm geist [...] tringen in daz aller inre.
Maaler 295r
(
Zürich
1561
):
Man Muͦß mitt der hand dapffer darein schlahen. [...]. Man Muͦß weynen oder greynen.
Sappler, H. Kaufringer
24, 46
(
schwäb.
, Hs. 1472
):
der newr zertretten hat ain huon, der muoss die schult widerthuon.
Kohler, Ickelsamer. Gram.
48, 18
(
wohl ˹Augsb.
1. Dr. 16. Jh.
˺):
Du selbs waißt vn̄ must bekennen, das ichs auff dich erweisen kan.
Klein, Oswald
9, 12
(
oobd.
,
1421
?):
nu müss ich wachen, seufzen, zittren ellentlich.
Spiller, Füetrer. Bay. Chron.
13, 16
(
moobd.
,
1478
/
81
):
wie Julius alles Germania pracht [...] hatt under der Römer herschaft, das sy, [...], zins und tribut geben muessten.
Oorschot, Spee/Schmidt. Caut. Crim.
323a, 33
;
432b, 24
;
Bell, G. Hager
402, 3, 6
;
2.
im Vergleich zu
1 von Verläufen / Geschehen / Handlungen unterschiedlichster Art gesagt, die weniger durch den Zwang, dem ein Handelnder unterliegt, bestimmt sind als durch natürliche, soziale, geschichtliche, religiöse Tatbestände tendenziell außerhalb menschlicher Handlungsmöglichkeiten; folglich: ›aufgrund inhärenter logischer Bedingtheiten textlicher Bezugsverhältnisse [wie] verlaufen müssen, [wie] zu tun sein‹; textliche Indikatoren dieses Bedeutungsansatzes sind: Verben mit vergleichsweise geringer Wertigkeit, Adverbien wie
notwendig, unzweifenlich
, formales Subj.
es
, Passivierungen, Partikeln wie
also, darum
, adverbiale Fügungen wie
durch not
, indefinites
man-
Pronomen, konsekutives
das
(Konjunktion).
Vielfach Texte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Syntagmen:
etw. bleiben lassen, unzweifenlich wissen, aus einer lere schöpfen m., einen fürsprecher haben, sich viel bücken m., der vater sich herausgiessen m
., [eine Stadt]
viel ausstehen m
.;
etw
. (Subj.)
sein, (durch jn., mit arbeit) geschehen, von etw. kommen m., j. in sorgen stecken, auf sein ende harren
, [wo]
bleiben m., etw. von jm. gesondert werden m., der christ Christo gleichförmig werden m
.
Belegblock:
Schönbach, Adt. Pred.
28, 33
(
osächs.
,
1. H. 14. Jh.
):
sol der mensche daz guͦt gewinnen, daz muͦz geschehen mit arbeit.
Sermon Thauleri 1va, 9
(
Leipzig
1498
):
do der vater gebirt seinen sun in der ewigkeit Wan von vberflussigkeit des vberwesenlichen reichtumbs in der gute gotes. so mochte er sich nicht ynnen enthaldenn er must sich herauß giessen vñ gemeinsam machen.
Jungbluth, J. v. Saaz. Ackermann
27, 22
(
Hs. ˹omd.
,
1465
˺):
Wer seinem weibe nicht [...] vertrauen wil, der muß stecken in steten sorgen.
Ebd. 30, 10
:
Von gut türstigkeit und forchte, [...], von ere eitelkeit müßen je komen.
zu Dohna u. a., Staupitz/Scheurl
207
(
Nürnb.
1517
):
dem [Christo] der christ, das ist der fürsehen, mus gleichformigt werden.
Reichmann, Dietrich. Schrr.
193, 23
(
Nürnb.
1548
):
Er mag nit bey jr sein / vn̄ muß doch bey jr sein.
Cirurgia H. Brunschwig 17vb, 10
(
Straßb.
[
1497
]):
ist er aber ein bot oder einer hantieru͂g dy er sich vil bücken ston od’ gõ muß.
Fuchs, Murner. Geuchmat
4896
(
Basel
1519
):
Soͤllendt sy vff buͦlschafft traben, | So muͤssents eyn fürsprechen haben.
Maaler 294r
(
Zürich
1561
):
Es hat Muͤssen sein / Man muͦßt es thuͦn.
Gilman, Agricola. Sprichw.
2, 133, 27
([
Augsb.
]
1548
):
Gots gewalt / und Herrn geschefft / muͤssen fürgehn.
Qu. Brassó 5, 449, 34
(
siebenb.
,
1613
):
Zu dieser Zeit hat Cronstadt viel ausstehen muessen.
Spiller, Füetrer. Bay. Chron.
30, 3
.
5.
charakterisiert einen Satzinhalt als Urteil des Textautors in dem Sinne, daß der Inhalt als zutreffend, sicher, kritisch abwertend, in Distanz gerückt erscheint; Indikator für diese Verwendung ist der Konjunktiv.
Phraseme:
als wärlich als ich müsse leben
o. ä. ›so wahr ich lebe‹.
Belegblock:
Karnein, Salm. u. Morolf
60, 5
(
srhfrk.
, Hs. um 1470
):
e das ich ime gebe min schones wip, | vil manig stolczer ritter | muste ee verlieren sinen lip.
Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
641
(
mrhein.
,
um 1335
):
Als werlich muͦze ich leben, | wir wollen dir drizig penninge geben.
Oorschot, Spee/Schmidt. Caut. Crim.
219b, 10
(
Frankf./M.
1649
):
wann bey jhnen etwan ein Rind / oder ein Viehe an einer Kranckheit darnieder gehet / [...] so schreiben sie solch Vngluͤck [...] Gott vnnd der Natur anheimb / es sey dann daß es so beschaffen sey [...] daß es auß der Natur nicht / sondern von boͤsen Leuthen herruͤhren muͤsse.
Bechstein, M. v. Beheim. Evang. Mt.
18, 33
(
osächs.
,
1343
):
Wie inmuͦstes
gezam dir
mochtest
hettestu sollē
solltistu
]
du dich irbarmen ouh dines zuͦknechtis, alse ich mich ouch dîn irbarmit hân.
Opitz. Poeterey
9, 33
(
Breslau
1624
):
vnd vemeinen / es sey keiner ein gutter Poete / er musse denn zu gleich ein boͤser Mensch sein.
Dietrich. Summaria
19v, 18
(
Nürnb.
1578
):
das [...] sie selbs jetzund schliessen solten / er [Jesus] muͤste der rechte Christ sein.
v. Keller, Ayrer. Dramen
2207, 17
(
Nürnb.
1610
/
8
):
Der Brunnen gibt von sich ein schein | Ein schönes Weibsbild muß da sein.
Klein, Oswald
11, 66
(
oobd.
,
um 1423
):
e das mir ainer gäb sein nar | [...] | ich müsst vor im ee als der sne zergän.
Kummer, Erlauer Sp.
1, 33
(
m/soobd.
,
1400
/
40
):
Gewint si ein chindelein, | eia so muͤst du der vatter sein.