oder,
Konj.
1.
verbindet zwei (teils mehrere) nominale, verbale, adjektivische / adverbiale Ausdrücke oder zwei satzwertige Einheiten in dem Sinne, daß die textliche (explizit ausgedrückte oder pragmatisch vorausgesetzte) Aussage für jeden der verbundenen Inhalte gilt; die Inhalte können referenziell oder semantisch eng zusammenliegen (bis zur Gleichheit bzw. Synonymie hin) oder stark differieren, ohne daß
oder
disjunktiv wird. Als Übersetzung / Lesart von
oder
empfehlen sich folgende Möglichkeiten: ›oder, gleichermaßen, und, sowohl [...] als auch, beziehungsweise, anders ausgedrückt, gleich ob das eine oder das andere, sei es das eine oder das andere‹.
Phraseme:
dieses oder jenes
›irgendetwas‹;
minder oder mer
›mehr oder weniger‹;
ein jar oder sechs
›etwa sechs Jahre‹ (ähnlich mit anderen Zahlenwerten und zählbaren Größen);
x
(z. B.
2000
)
oder y
(z. B.
3000
)
gulden
›etwa 2 bis 3 tausend Gulden‹;
kurz oder lang
›irgendwann, ob in Kürze oder später‹;
es sei (jm.) lieb oder leid
.
Syntagmen
(in Auswahl):
vater oder mutter, bruder oder schwester, schulden oder andere sachen, Beier oder Franke, apostem oder geschwer, krankheit oder trübsal, das herz oder der geist, recht oder unrecht, das heilige land oder das erlöste Jerusalem, gute oder böse getaten, an wirden oder an gut, an leib oder sele, weder in wasser oder auf lande, in einem flug oder verübergehen, in patienz oder abstinenz
;
etw
. (Subj.)
sein oder nicht, essen oder trinken, begeren oder minnen, meinen oder reden, das [...], (einen brief) sehen oder hören lesen
(formelhaft),
gros oder hoch, tobend oder anders ane sinne, morgen oder nach langer zeit
;
das bezeichnet etwas oder das ist etwas
;
sagen
[+ Hauptsatz]
oder
[+ Hauptsatz];
etw. oder mit etw
. (z. B.
mit gewalt
)
oder durch etw
. (z. B.
durch misbrauch
) [tun] ›etw. gleich, ob auf die eine oder andere Weise tun‹.

Belegblock:

Schade, Sat. u. Pasqu. (o. O.
1521
):
dardurch ir alle guͤter und reichtuͦmb oder mit gewalt annement oder durch misbrauch betrieklich an euch ziehent.
Enders, Eberlin (
Wittenb.
1525
):
leset den Text schlecht hynweg on Comment, eyn mal odder drey.
Gropper. Gegenw. (
Köln
1556
):
Das Bezeichnet / das Bedeütet oder Vorbildet meinen Leib / Oder / Das ist eyn Figur.
Tiemann, E. v. Nassau-S. Kgn. Sibille
167, 23
(
rhfrk.
,
um 1435
):
Er müß doch hangen [...] / das sie liep oder leyt wem es wolle.
Karnein, Salm. u. Morolf
31, 1
(
srhfrk.
, Hs.
um 1470
):
Es stande kurtz oder lang, | ich wil sie [frauwe] im nemen sunder sinen dang.
Dünnhaupt, Werder. Gottfr. v. Bullj.
3, 2
(
Frankf./M.
1626
):
Gluͤcklicher Heerzug in das Heylig Landt / Oder Das Erloͤsete Jerusalem.
Jungbluth, J. v. Saaz. Ackermann
2, 13
(Hs. ˹
omd.
,
1465
˺):
Bistu aber tobend, wütend, twalmig oder anderswo on sinne.
Ebd.
10, 15
:
alle menschgeslechte, die gewesen sint oder noch werden.
Bechstein, M. v. Beheim. Evang. (
osächs.
,
1343
):
wanne daz buch ûf getân ist und du wizzen wilt [...] diz odir jeniz capitel, [...], alzuͦhant wirdes du iz gelârt.
Ebd. Mt. :
Darumme sult ir nicht sorcveldic sîn sprechinde: waz sulle wir ezzin odir waz sullen wir trinken? odir wô mite werde wir gecleidet?
ein îclîcher wer da lêzit hûs odir brûder oder swestir odir vatir odir mûtir odir hûsvrowen odir sune odir ackere [...], her sal intfân hundirtvalt.
Roloff, Naogeorg/Tyrolff. Pamm.
103, 853
(
Zwickau
um 1540
):
Die lehr / ja welche recht odr unrecht sey?
Palm, Veter Buoch (
schles.
, Hs.
E. 14.
/
A. 15. Jh.
):
Ietz stirbe oder morne oder nach langer zit vnd valle denne in die ewige marter vmbe mine sunde.
Gilman, Agricola. Sprichw.
1, 187, 12
(
Hagenau
1534
):
Es hatt Gott allwege / wenn er etwas thun wil / zuvor die leutte hundert jar odder ein zeyt zuvor durch gemeyne rede unnd zeichen warnen lassen.
Boos, UB Aarau (
halem.
,
1323
):
Allen dien die disen brief sehent older hoͤrrent lesen vergien ich [...].
Welti, Urk. Rheinfelden
183, 12
(
halem.
,
1433
):
so sint der andern ackeren by 10 jucharten mynder oder mer vngeuerlichen.
Morgan u. a., Mhg. Transl. Summa
206, 22
(
schwäb.
,
14. Jh.
):
daz der wille, der do ist ein beginne der williger geteten, oder der guoten oder der bösen, [...], si ein beginne (der sünden).
Chron. Augsb. (
schwäb.
, zu
1532
):
wann es was ain jar oder sechsen das gotlos volck, [...], mit irem grossen bracht so hochfertig.
Ebd. :
alsdann so gab man vom rathaus zwai oder drei tausent gulden in müntz.
Andreae. Ber. Nachtmal
29r, 5
([
Augsb.
]
1557
):
zuͦ ainer antwort / wider die so maynen oder reden / Das wesen des Brots vnnd Weins werde in das wesen des Leibs vnnd bluͦts Christi gemacht.
Piirainen, Stadtr. Sillein
36b, 15
(
sslow. inseldt.
,
1378
):
allez daz wandelbar sei an mir armen svͤnder ez sey an sele oder an leyp.
Gropper. a. a. O. ;
Dubizmay, kurß zu Teutze
13, 8
;
Bechstein, a. a. O. Mt. ;
Eggers, Psalter
9, 20
;
zu Dohna u. a., Staupitz/Scheurl
100
;
118
;
Roloff, Brant. Tsp.
918
;
Schmidt, Rud. v. Biberach
15, 2
;
Spechtler, Mönch v. Salzb.
32, 28
;
Klein, Oswald
3, 23
;
10, 76
;
Bauer, Imitatio Haller
50, 15
;
102, 11
;
Piirainen, a. a. O.
83a, 7
.
Vgl. ferner s. v.  2.
2.
drückt aus, daß von zwei Inhalten nur einer in Betracht kommt, der andere also exkludiert ist; deutlich schwächere Belegung als für 1.

Belegblock:

Karnein, Salm. u. Morolf
599, 4
(
srhfrk.
, Hs.
um 1470
):
da [in Jherusalem] gewinne ich sie [frauwe] ime an, | oder man sieht mich zu Akers | nimer me under der cronen gan.
Bechstein, M. v. Beheim. Evang. Mt. (
osächs.
,
1343
):
sage uns: Waz dunkit dich: zcimet iz uns zcins zuͦ gebine dem keisere odir nicht?
zu Dohna u. a., Staupitz/Scheurl
180
(
Nürnb.
1517
):
Niemant mag zweien herrn dienen; antweder wirdet er einen hassen und den andern lieben oder einen gedulden und den andern verachten.
Maaler (
Zürich
1561
):
Oder. Disiunctiua coniunctio, Aut. [...]. Eintweders trincke oder gange.
Munz, Füetrer. Persibein
280, 4
(
moobd.
,
1478
/
84
):
so wil ich kyesen | ein sterben meinem leib, | mein leben drumb verliesen, | oder ich kumm zw hilff dem rainen weib!
3.
drückt (in logischem Anschluß an 2) die Alternative zu einer Möglichkeit (oft einem Befehl) aus, die nicht realisierbar ist: ›ansonsten, sonst, andernfalls, wenn nicht, so [...]‹.

Belegblock:

Holland, H. J. v. Braunschw. V. e. Weibe (
Wolfenb.
1593
):
Da gehe hin, vnd hole es, Oder ich wil dich mit Füssen tretten.
Opel, Spittendorf (
osächs.
,
um 1480
):
bis das ein itzlicher sein theil bass und bequemer ausrichten könte, uff das wir so gar schwerlich nicht zu schaden kommen dörften, oder woln wirs umb euch verdienen.
Sappler, H. Kaufringer
3, 430
(
schwäb.
, Hs.
1464
):
das bewär zuo diser frist, | oder du pist ain böser krist.
Ebd.
12, 123
:
raicht mir her den zehenden mein, | oder ir habt gotz huld verlorn.
4.
leitet nach einer Sentenz oder Behauptung einen Fragesatz rhetorischer Art ein.

Belegblock:

Bechstein, M. v. Beheim. Evang. Mt. (
osächs.
,
1343
):
wan alle die das swert nemen, di sullen vorterbin von dem swerte. Odir wênistu niht daz ich muͦge mînen vatir gebitten, und her sendet mir nuͦ mêr wan zwelf schare der engele?
Hohmann, H. v. Langenstein. Quästio
201, 28
(
moobd.
,
1. H. 15. Jh.
):
jch han mir vermëhelt dy rainchait. Oder waist dw nicht, das ich mit dem künig aller künig pin getreten yn dy chanschafft?