neigung,
die
;
-Ø/–
.
1.
›physikalische Eigenschaft von Sachen (Steinen) zum Fallen‹ (der Beleg
Quint, s. u.
); (meist:) ›dem Menschen als natürlich, sozial, religiös bestimmtem Wesen eigene, nach den genannten Bestimmungen vorgegebene, aber auch dem Willen und der Verfügbarkeit des einzelnen unterliegende Verhaltens- und Handlungsdisposition‹; sie reicht von natürlichen Bedürfnissen und sinnlichen Gelüsten über soziale Einstellungen aller Art bis hin zu religiös-mystischer Glaubensinbrunst; dieses Spektrum wird teils als Bestimmung zur Sünde dem moraltheologischen Urteil unterworfen, teils als Möglichkeit zur Beeinflussung bis Beherrschung natürlicher Anlagen dargestellt, teils als Weg mystischer Heiligung mit dem Ziel der Nähe zu Gott verstanden und dementsprechend als religiöse Verpflichtung pragmatisiert; verbindendes Motiv dieser Semantisierungen / Pragmatisierungen ist ›Tendenz, Anlage, Disposition, Anreiz, Hang, Bestreben‹; als Metonymie zur Nuance ›Heiligung, religiöse Verpflichtung‹ in einem Beleg (s. u.
Rieder, Gottesfr.
) auch: ›Neigung zu einer Stiftung zur Ehre eines Heiligen‹; vgl.  36 sowie
neiglichkeit
(dort stärkere Betonung der Sündenverfallenheit des Menschen).
Gehäuft Texte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Bedeutungsverwandte
(bzw. Orientierungsfeld):  2,  23,  123456,  12347,  34,  2,  24, ,  1, ,  91011,
1
 4578,  15678,
1
 123, (
die
1,  4,  1,  567,  12, .
Syntagmen:
(die / eine) n. brechen / nemen, zu dem leibe haben, in der natur tragen, die n. (zu sünden) ausschliessen
;
ein geist eine n. sein
;
die n
. (Subj.)
von etw., von aussen kommen, einem stein innig, eine böse wurzel sein, der natürlichkeit folgen, im grunde bleiben, bewegung bringen, sich verkeren
(können),
jm. vergehen, die n. jn. fleissig machen, zu
[+ Infinitivsatz];
j. einer n. sein, zu [...]
;
einer n. folgen / wiederstreben
;
aus n. furcht kommen, aus einer n. feuer legen, des lustes suchen, in / mit n. einander zugetan sein, in klarheit mit n. nachfolgen, der geist mit n. auf die creaturen fallen, ungeachtet einer n
. [etw. tun];
die n.
˹
des gemütes / blutes / (freien) willens, der conspersion / natur, des mänlichen / weiblichen geschlechtes, der natürlichen feuchtigkeit, der sinnlichen kräfte
˺ (gen. subjectivus),
die n.
˹
des gemaches, der sünde
˺ (gen. objectivus);
die n. auf sich selb, im leib, in der sele, nach der form, zu gutem / bösem, zu übel, zu den dingen, zu sünden
(V.),
zur keuschheit / unkeuschheit, zum weibe
;
die alte / angeborene / äussere / böse / brünstige / freundliche / gütliche / inwendige / natürliche / rechte / stolze / sündliche / ungewönliche / willige n
.;
die n. niederwärt
;
das aufsehen auf die n
.

Belegblock:

Luther, WA (
1519
):
Dann es ist unmuglich ein vorsatz tzuhaben, die sunde [...] tzumeyden, wann die neygung des menlichen und weyplichen geslechts tzusamen lassen nicht ab.
Ebd. (
1529
):
Hilff uns, das wir seine boͤse neygung zu der unkeuscheyt [...] muͤgen mit Christo an das creuetz schlagen.
Nun wann ich in der naygung fynd in mir ain fyncklyn, so ists bald falsch, so ist dem gesetz nit gnuͦgsam gschehen. Da fynd ich nit allain ain fyncklin, sonder ain gantzen bachofen vol feürs der besen naygung.
Ebd. (
1525
):
dis ist das wort Gottes, durch wilchs krafft ynn des menschen leib samen zur frucht, und die bruͤnstige, natuͤrliche neigung zum weib geschaffen und erhalten wirt.
Quint, Eckharts Trakt. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
Alliu neigunge, lust und minne kumet von dem, daz im glîch ist, wan alliu dinc neigent und minnent ir selbes glîch.
Ein ander werk ist noch inniger dem steine, daz ist neigunge niderwert.
Diu neigunge ze den sünden enist niht sünde, aber wellen sünden, daz ist sünde, [...]. In der wârheit, dem reht wære, hæte der gewalt ze wünschenne, er ensölte niht wellen, wünschen, daz im vergienge neigunge ze den sünden, wan âne die stüende der mensche ungewis in allen dingen [...] und darbete ouch der êren des strîtes und siges und des lônes; [...]. Wan diu neigunge machet den menschen vlîziger alwege sich in der tugent grœzlîche ze üebenne.
Volkomeniu abegescheidenheit enhât kein ûfsehen ûf keine neigunge.
Jostes, Eckhart
57, 20
(
14. Jh.
):
wan alzo der geist uf di creaturen vellet mit neigenge, so vindet er in im sein pild.
Werbow, M. v. Amberg. Gew.
719
(
omd.
/
oobd.
,
v. 1382
):
wenn man ein tot sund will begen, so muz dor zw gehorn ein freies und ein wol bedachtes gemuet und neygung dez freyen willen.
Strauch, Par. anime int.
125, 1
(
thür.
,
14. Jh.
):
daz dritte, daz si [sele] neigunge hait zu dem libe, so inmac si sich mit Gode nicht foreinen.
Ebd.
123, 23
:
di sele di in deme himmilriche sint, insint nicht vollin selic, wan si noch nêgunge habin zu den liben.
v. d. Broek, Suevus. Spieg.
176v, 6
(
Leipzig
1588
):
Das sie [Freundtschafft] sey ein Consens vnd Einigkeit / in Goͤttlichen vnd Menschlichen dingen / mit Liebe vnd freundlicher Neigung einander zugethan.
Wutke, Schles. Bergb., Cod. Sil. (
schles.
,
1528
):
aus sonderlicher fründschaft und neigung, auch zu gutte und ufnehmen gemeines nutzes.
Gille u. a., M. Beheim
71, 372
(
nobd.
,
2. H. 15. Jh.
):
so vil sorgsamer solches helb | ist im
[dem
menschen
]
die naigung auf sich selb. | das ist, wann ainr gedenket | Des gutz, das an im ist und doch | mit nicht gedenket, das im noch | das gut villeicht entwenket.
Ebd.
118, 574
:
daz hie | der himlisch arczt hat lassen die | vergifftigen und öden | Qualitet und naigung geschent | dar umb, so der mensch nun erkent | sein unvolkumung schnöden | Und gebrechen vil swere, | daz er dann ach erkent seinn staͮt.
Mayer, Folz. Meisterl. (
nobd.
,
um 1480
):
so du dein neigung dan nit prichest | Und ir stest wider, | Zu hell du ewiclichen sichest.
Wagner, Erk. Ps.-J. v. Kastl
12, 6
(
nürnb.
,
1. H. 15. Jh.
):
DEm menschen, der do erbeit czu seiner aygen bekantnuͤß zu komen, dem ist auch nuͤcz, czu erforschen sein complexion, sein aygenschaft und sein natur, die naygung seiner conspersion, seyner natuͤrlichen feuchtikeit und seins pluts, wo der mensch mer hingenaygt sey.
Fischer, Folz. Reimp.
26, 484
(
Nürnb.
1480
):
So üb er sich doch teglich mer, | Pis sich die allt neygung verker.
Voc. Teut.-Lat.
x ijr
(
Nürnb.
1482
):
Naygung zu ein ding. fames. f. t. od’ hunger.
Reichmann, Dietrich. Schrr.
250, 33
(
Nürnb.
1548
):
weyl wir doch von natur so arg / vnnd zu allem boͤsen geneyget sind / das wir solcher boͤsen angebornen neygung nicht folgen [...] sollen.
Vetter, Pred. Taulers (
els.
,
E. 14. Jh.
):
die moge, daz meinen wir die neigunge der sinnelicher krefte und ir bildunge, die in noch inziehen und sleiffent, ouch bringent sú in bewegunge liebes und leides, froͤude und trurikeit.
Das sint die boͤsen gebresten die in dem grunde ligent, und man die nút gedoͤtet enhat [...], und ist der pfluͦg mit guͦten uͤbungen darúber gangen, und ist doch die neigunge, die boͤse wurtzele in dem grunde bliben, es si hochfart oder unkúschikeit.
Eichler, Ruusbr. steen
900
(
els.
,
sp. 14. Jh.
):
da wir der clarheit nach folgen v́ber vernvnft mit einveltiger gesiht vnd mit williger neigunge uns selbes bitz in vnser obrest leben, da enphahen wir die v́berformunge gottes in alheit vns selbes.
Ders., Ruusbr. obd. Brul.
2, 748
(
els.
,
E. 14. Jh.
):
menschen, die verfullet sint mit boͤser fúhtekeit, daz ist mit vngeordenter neigungen lipliches gemaches vnd froͤmedes trostes von creaturen.
Rieder, Gottesfr. (
els.
,
1382
/
91
):
sine meinunge were, das er gerne eine neigunge machen wolte in dem volke den lieben erwirdigen apostelen sancte Jacobe tegeliche zuͦ erende.
Wickram
4, 36, 11
(
Straßb.
1556
):
Wiewol etliche und vil vaͤtter und muͤtern der neigung sind / ihre kinder etwan von grosses guͤts wegen an ein ort wider unnd über iren willen zuͤ stossen.
Moscherosch. Ges. Phil. v. Sittew. (
Straßb.
1650
):
Andere sind, die vngeachtet ihres alters, Natur, Neigung vnd Lüsten, sich in Liebe gegen alte Hadermätzen vnd Kuplerinnen annehmen.
Warnock, Pred. Paulis
5, 119
(
önalem.
,
1490
/
4
):
ain soliche creatur, in der gott ain gross wolgefallen hatt, won gantz kain súnd, ja och kain fomitum peccati, naigung der sund, was in im
(in
Adam
).
Steer, Schol. Gnadenl.
1, 500
(
noschweiz.
,
15. Jh.
):
Begirde der selikait ist die naigunge, als ain wille genaigot ist ze minnend sich selber, vss der naigunge, wenne si staͮt on gnad, so wirt gesuͦchet aigner lust.
Maaler (
Zürich
1561
):
Neigung (die) Geneigter will. [...]. Neigung zum boͤsen. Prauitas. Neigung deß gemuͤts / darauff sich das gemuͤt neigt oder legt. Applicatio animi. Ein natürliche Neigung etwar zuͦ haben.
Morgan u. a., Mhg. Transl. Summa
89, 16
(
schwäb.
,
14. Jh.
):
etlich gebresten, die widerkriegent der volkomenheit der kunst unde der gnade: alse unwissentheit unde neigunge ze übele.
Ebd.
91, 4
:
die volheit der gnaden unde der tugenden, die sliezent uz alle neigunge zesündenne.
Rot
318
(
Augsb.
1571
):
Inclination, Neygung / art die eim anhangt / Eygenschafft / natürliches einflusses nach dem Gestirn.
Hohmann, H. v. Langenstein. Untersch.
53, 16
(
moobd.
,
1. H. 15. Jh.
):
als do geschicht etwan in chranghaiten vnd in swangern frawen ain snell vnd vngewondleiche naygung
[Var K:
nachenung
]
vnd pegyr zu dem oder zu dem dinge.
Ebd.
77, 105
:
von dem, daz sew erdenckent vnd derfindent von in selben, davon nement sy ain naigung vnd sagent freyleich chunftigew ding.
Steer, K. v. Megenberg. Sel
185
(Hs. ˹
moobd.
,
1411
˺):
des natürleichen leibs, der recht darczü geschikcht vnd geformt ist gewesen an seinen tailen vnd der hat gehabt rechte naygung, fuͦg vnd peitung zü dem leben.
Mell u. a., Steir. Taid. (
m/soobd.
,
1568
):
oft zu zeiten aus peser naigung, wo inen [pettler, landfarer] ir muetwillen und pöse handlungen nit gestatt, feur gelegt worden.
Jostes, a. a. O.
90, 19
;
Sermon Thauleri
14vb, 26
;
Bihlmeyer, Seuse ;
Eichler, Ruusbr. steen
394
;
Menge, Laufenb. Reg.
2111
;
Bauer, Imitatio Haller
82, 3
;
103, 22
;
Vgl. ferner s. v.  1, (Adj.) 2.
2.
s.  2.
3.
›Niederbiegung, Krümmung e. S.‹ (wohl als Handlung); ›Beugung, Verbeugung e. P. (z. B. des Priesters vor dem Altar) oder gegenüber einer anderen Person‹;
vgl.  4.
Bedeutungsverwandte:
, , , , ,  1; vgl. ,  2 (s. v.  5), .

Belegblock:

Sexauer, Schrr. in Kart.
271, 2
(
Basel
,
um 1510
):
So si ouch einandern begegnen sollen si mit frúntlicher frölikeit. vnd demütiger neigung einander wychen. vnd mit schwygenhaltung fúr gon.
Rot
312
(
Augsb.
1571
):
Flexur [...] Biegung / neygung / abrenckung / ranck.
Buijssen, Dur. Rat.
56, 30
(
moobd.
,
1384
):
di naigung des prieser, di er tuͦt inn dem ampt der mess [...], werden beslozzen in ainer gewizzen zal, wenn ordenleich (achtstund) nayget sich der priester tief vor dem alter.
Ebd.
57, 1
.
4.
›mystische Liebesinbrunst des Menschen sowohl gegenüber den
brüdern / schwestern
wie gegenüber
got
‹; Voraussetzungen für ersteres sind
eigener wille, gutmütige vermessenheit
(auf der Seite des Menschen) und
güte gottes, weiser rat des heiligen geistes
(auf der Seite Gottes); der zweite Fall hat die
entsunkenheit
des Menschen zur Voraussetzung und kann für ihn zur
vereinigkeit
, zu
ein geist mit got werden
führen;
vgl.  5.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  1,  2,  5,  2, , ,  10,  4.

Belegblock:

Eichler, Ruusbr. obd. Brul.
2, 2007
(
els.
,
E. 14. Jh.
):
in der gebrúchlicher neigungen sins geistes v́ber windet er got vnd wurt ein geist mit ime.
Strauch, Schürebrand (
els.
,
E. 14. Jh.
):
daz die guͤte gottes daz [...] glünsende ganeisterlin uwerre guͦtwilligen vermessenheit und begirlichen neigungen het gemeinsamet und vereinbert in daz große hitzige inbrünstige minneflammende fúr aller bruͤdere.
5.
bedeutungsverwandt zu ;
vgl.  1.