müssen
I
V.
(Präteritopräsens; zu mhd.
müezen
›sollen, müssen‹
; vgl. Lexer 1, 2217); zur Flexion:
Frnhd. Gr. §  M
145
; zu möglichen motivationellen Beziehungen zwischen den einzelnen Bedeutungsansätzen, auch zur motivationellen sowie etymologischen Verbindung mit
musse
s. ff.
– 1-6 Modalverb (5 epistemisch); 7 Teil der Futurperiphrase.
1.
›etw. tun müssen, aufgrund von Zwängen verschiedener Art und Ursache etw., das im Verb genannt ist, zu tun verpflichtet, gezwungen, gehalten sein‹; offen zu 2.
Syntagmen
, jeweils mit Subj. d. P., z. B.:
j. wachen / seufzen / zittern / weinen, fleis anwenden, etw
. [tun]
m
., z. B.
ins kloster gehen, etw. dingen / bekennen, ein haus aufreissen, zins / tribut, die münze geben, eine busse dulden, die schuld bezalen / wiedertun müssen
.

Belegblock:

Helm, H. v. Hesler. Apok. (
nrddt.
,
14. Jh.
):
die lute musten ab | Treten der alt gewonten site.
sie mustenß thun, das wol than seyn sol.
Sievers, Oxf. Benedictinerr. (
hess.
,
14. Jh.
):
ob siz dunt, sie muzzen ir busze dar umme dulden.
Rupprich, Dürer (
nobd.
,
1520
):
ich hab jhrem arczt, dem docter, müssen ein hauß auffreÿsen.
Schmidt, Rud. v. Biberach
5, 1
(
whalem.
,
1345
/
60
):
dar vmbe so mvͤssen wir von notturft mit vnserm geist [...] tringen in daz aller inre.
Maaler (
Zürich
1561
):
Man Muͦß mitt der hand dapffer darein schlahen. [...]. Man Muͦß weynen oder greynen.
Sappler, H. Kaufringer
24, 46
(
schwäb.
, Hs.
1472
):
der newr zertretten hat ain huon, der muoss die schult widerthuon.
Kohler, Ickelsamer. Gram. (wohl ˹
Augsb.
1. Dr. 16. Jh.
˺):
Du selbs waißt vn̄ must bekennen, das ichs auff dich erweisen kan.
Klein, Oswald
9, 12
(
oobd.
,
1421
?):
nu müss ich wachen, seufzen, zittren ellentlich.
Spiller, Füetrer. Bay. Chron. (
moobd.
,
1478
/
81
):
wie Julius alles Germania pracht [...] hatt under der Römer herschaft, das sy, [...], zins und tribut geben muessten.
Helm, a. a. O. ;
Oorschot, Spee/Schmidt. Caut. Crim.
323a, 33
;
432b, 24
;
Bell, G. Hager
402, 3, 6
;
v. Keller, Ayrer. Dramen ;
Klein, a. a. O.
6, 24
;
Grothausmann, Stadtb. Karpfen
5, 9
.
2.
im Vergleich zu 1 von Verläufen / Geschehen / Handlungen unterschiedlichster Art gesagt, die weniger durch den Zwang, dem ein Handelnder unterliegt, bestimmt sind als durch natürliche, soziale, geschichtliche, religiöse Tatbestände tendenziell außerhalb menschlicher Handlungsmöglichkeiten; folglich: ›aufgrund inhärenter logischer Bedingtheiten textlicher Bezugsverhältnisse [wie] verlaufen müssen, [wie] zu tun sein‹; textliche Indikatoren dieses Bedeutungsansatzes sind: Verben mit vergleichsweise geringer Wertigkeit, Adverbien wie
notwendig, unzweifenlich
, formales Subj.
es
, Passivierungen, Partikeln wie
also, darum
, adverbiale Fügungen wie
durch not
, indefinites
man-
Pronomen, konsekutives
das
(Konjunktion).
Vielfach Texte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Syntagmen:
etw. bleiben lassen, unzweifenlich wissen, aus einer lere schöpfen m., einen fürsprecher haben, sich viel bücken m., der vater sich herausgiessen m
., [eine Stadt]
viel ausstehen m
.;
etw
. (Subj.)
sein, (durch jn., mit arbeit) geschehen, von etw. kommen m., j. in sorgen stecken, auf sein ende harren
, [wo]
bleiben m., etw. von jm. gesondert werden m., der christ Christo gleichförmig werden m
.

Belegblock:

Schönbach, Adt. Pred. (
osächs.
,
1. H. 14. Jh.
):
sol der mensche daz guͦt gewinnen, daz muͦz geschehen mit arbeit.
Sermon Thauleri
1va, 9
(
Leipzig
1498
):
do der vater gebirt seinen sun in der ewigkeit Wan von vberflussigkeit des vberwesenlichen reichtumbs in der gute gotes. so mochte er sich nicht ynnen enthaldenn er must sich herauß giessen vñ gemeinsam machen.
Jungbluth, J. v. Saaz. Ackermann
27, 22
(Hs. ˹
omd.
,
1465
˺):
Wer seinem weibe nicht [...] vertrauen wil, der muß stecken in steten sorgen.
Ebd.
30, 10
:
Von gut türstigkeit und forchte, [...], von ere eitelkeit müßen je komen.
zu Dohna u. a., Staupitz/Scheurl
207
(
Nürnb.
1517
):
dem [Christo] der christ, das ist der fürsehen, mus gleichformigt werden.
Reichmann, Dietrich. Schrr.
193, 23
(
Nürnb.
1548
):
Er mag nit bey jr sein / vn̄ muß doch bey jr sein.
Cirurgia H. Brunschwig (
Straßb.
[
1497
]):
ist er aber ein bot oder einer hantieru͂g dy er sich vil bücken ston od’ gõ muß.
Fuchs, Murner. Geuchmat
4896
(
Basel
1519
):
Soͤllendt sy vff buͦlschafft traben, | So muͤssents eyn fürsprechen haben.
Maaler (
Zürich
1561
):
Es hat Muͤssen sein / Man muͦßt es thuͦn.
Gilman, Agricola. Sprichw.
2, 133, 27
([
Augsb.
]
1548
):
Gots gewalt / und Herrn geschefft / muͤssen fürgehn.
Qu. Brassó
5, 449, 34
(
siebenb.
,
1613
):
Zu dieser Zeit hat Cronstadt viel ausstehen muessen.
Jungbluth, a. a. O.
9, 2
;
15, 6
;
Mathesius, Passionale ;
Hoffmeister, Kuffstein. Gef.
A vr, 4
;
zu Dohna u. a., a. a. O.
10
;
111
;
Gilman, a. a. O.
1, 178, 14
;
Klein, Oswald
2, 10
;
Spiller, Füetrer. Bay. Chron. .
3.
›etw. dürfen; jm. etw. erlaubt, zulässig, zu tun gestattet sein‹, in verneinenden Sätzen (mittels
nicht, kein
), auch im abhängigen Satz nach verneinendem Hauptsatz, ferner in Fragesätzen (auch indirekten).

Belegblock:

Helm, H. v. Hesler. Apok. (
nrddt.
,
14. Jh.
):
Daz die patriarke | [...] | Die daz heten in iren tagen | Wol ime geiste vornomen | Daz Got zur erden wolde komen | [...] | Und daz si ez doch nicht musten sen.
Muz her nicht tuen swaz her wil?
Luther, WA (
1530
):
solchss gilt und taug bey uns nicht, Da ein man nur ein weib haben mus.
Ebd. (
1535
):
Die pfingsten predigt mussen wir nicht so uberlauffen.
Froning, Alsf. Passionssp.
5625
(
ohess.
,
1501ff.
):
ich enmuß des manß nicht griffen an: | das thut mer ach und we.
Oorschot, Spee/Schmidt. Caut. Crim.
358b, 12
(
Frankf./M.
1649
):
dann man muß keinen vnschuldigen verdammen.
Opel, Spittendorf (
osächs.
,
um 1480
):
der rath weisete sie in ihre heuser, daraus musten sie auch nicht gehen.
der rath muste nicht zuhören
[bei der
beichte
]
oder bey der antwort sein und meinte auch allso, von der beichte stunde ihme nicht zu sagen.
v. Keller, Ayrer. Dramen ;
Wyss, Luz. Ostersp.
7307
.
4.
in einer Reihe von Fällen steht
müssen
für ›können‹; ›mögen‹; ›brauchen‹; ›sollen‹; vgl. die Übersetzungsvorschläge in den Belegen.

Belegblock:

Luther, WA (
1530
):
keinerley zu gleich mus
[›kann‹]
beide recht und unrecht sein.
Memminger Chron. Beschr. (
Ulm
1660
):
wann wir von Vrsprung vnd Nahmen vieler Teutschen Staͤtten / [...] / nur mutmassen muͤssen
(›können‹).
Schönbach, Adt. Pred. (
osächs.
,
1. H. 14. Jh.
):
er sprach: min lip muͦze
[›möge‹]
sterben als die gerechten und min leste ende muze
[›möge‹]
sich gelichen den selben.
Sappler, H. Kaufringer
2, 289
(
schwäb.
, Hs.
1464
):
damit müeß
[›möge‹]
uns got bewaren, | wau wir reiten.
Chron. Augsb. (
schwäb.
, Hs.
16. Jh.
):
er was warlich ain frummer man [...]; gott von himmel dank im und mueß
[›möge‹]
seiner seel pflegen.
v. Keller, Ayrer. Dramen ;
Bauer, Geiler. Pred.
472, 27
;
Fichtner, Füetrer. Trojanerkr.
42, 5
;
Spechtler, Mönch v. Salzb.
22, 3
.
5.
charakterisiert einen Satzinhalt als Urteil des Textautors in dem Sinne, daß der Inhalt als zutreffend, sicher, kritisch abwertend, in Distanz gerückt erscheint; Indikator für diese Verwendung ist der Konjunktiv.
Phraseme:
als wärlich als ich müsse leben
o.ä. ›so wahr ich lebe‹.

Belegblock:

Karnein, Salm. u. Morolf
60, 5
(
srhfrk.
, Hs.
um 1470
):
e das ich ime gebe min schones wip, | vil manig stolczer ritter | muste ee verlieren sinen lip.
Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
641
(
mrhein.
,
um 1335
):
Als werlich muͦze ich leben, | wir wollen dir drizig penninge geben.
Oorschot, Spee/Schmidt. Caut. Crim.
219b, 10
(
Frankf./M.
1649
):
wann bey jhnen etwan ein Rind / oder ein Viehe an einer Kranckheit darnieder gehet / [...] so schreiben sie solch Vngluͤck [...] Gott vnnd der Natur anheimb / es sey dann daß es so beschaffen sey [...] daß es auß der Natur nicht / sondern von boͤsen Leuthen herruͤhren muͤsse.
Bechstein, M. v. Beheim. Evang. Mt. (
osächs.
,
1343
):
Wie inmuͦstes
[
Mentel
1466:
gezam dir
; Var. 1475
2
-1518:
mochtest
;
Lang
1521:
hettestu sollē
;
Luther
1545:
solltistu
]
du dich irbarmen ouh dines zuͦknechtis, alse ich mich ouch dîn irbarmit hân.
Opitz. Poeterey
9, 33
(
Breslau
1624
):
vnd vemeinen / es sey keiner ein gutter Poete / er musse denn zu gleich ein boͤser Mensch sein.
Dietrich. Summaria
19v, 18
(
Nürnb.
1578
):
das [...] sie selbs jetzund schliessen solten / er [Jesus] muͤste der rechte Christ sein.
v. Keller, Ayrer. Dramen (
Nürnb.
1610
/
8
):
Der Brunnen gibt von sich ein schein | Ein schönes Weibsbild muß da sein.
Klein, Oswald
11, 66
(
oobd.
,
um 1423
):
e das mir ainer gäb sein nar | [...] | ich müsst vor im ee als der sne zergän.
Kummer, Erlauer Sp. (
m/soobd.
,
1400
/
40
):
Gewint si ein chindelein, | eia so muͤst du der vatter sein.
6.
›etw. müssen, das inhaltlich aus dem Umtext hervorgeht oder aus dem Weltwissen erschließbar ist, aber syntaktisch durch Elision des Verbinfinitivs (meist eine Richtungsangabe enthaltend) ungenannt bleibt‹; anschließbar an 1.

Belegblock:

Bührer, Kl. Renner
179
(
nobd.
, Hs.
um 1480
):
Der gemein bruder wirtt vergessen. | Der tag vnd nacht czu der lere muͤss.
Vetter, Pred. Taulers (
els.
,
E. 14. Jh.
):
Die heiligen jungern worent also gar besessen von [...] der gegenwertikeit unsers herren Jhesu Cristi, [...], daz daz besessen uz muͤste und abe muͤste, soltent sú zuͦ dem woren geistlichen indewendigen troste komen.
Chron. Strassb. (
els.
,
1362
):
du versniter düfel, du muͦs herus und soltestu joch dine muͦter gesnien.
Sappler, H. Kaufringer
3, 618
(
schwäb.
, Hs.
1464
):
ich muost wider über den graben.
Klein, Oswald
123, 37
(
oobd.
,
1415
):
„Zal, gilt, du must!“ was ir gsangk.
7.
Bestandteil der periphrastischen Verbform, mittels der man die Zukunft eines Geschehens / einer Handlung in Verbindung mit dem Ausdruck ihres sicheren Eintretens (vgl. dazu die Überlappung vor allem mit 2) kennzeichnet; eine Übersetzungsmöglichkeit ist: ›werden, sicherlich werden‹ [+ Vollverb].
Bedeutungsverwandte:
, .

Belegblock:

Chron. Köln (
rib.
, Hs.
1. H. 15. Jh.
):
dat wir samen vnse bloit | hude moissen sturtzen in syne ere.
Pfefferl, Weigel. Gn. S. 
96, 13
(
um 1571
, Hs.
1615
):
der wirdt [...] verstehen, wie wier in Adam alle sterben vnd wie wir in Christo miessßen wider aufferstehen.
Tiemann, E. v. Nassau-S. Kgn. Sibille
121, 11
(
rhfrk.
,
um 1435
):
dan wirt myr uwer liebe nit schin / so muß ich darvmb sterben.
Ebd.
124, 3
:
Vff den dot den ich lyden sal vnd muß / jch han nit gewist / das [...].
Karnein, Salm. u. Morolf
34, 4
(
srhfrk.
, Hs.
um 1470
):
sie [dochter] muß mich iemer riuwen, | das sie hat den cristen man.
Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
1084
(
mrhein.
,
um 1335
):
Stig vf, man muͦz dich henken.
Henschel u. a., Heidin
551
(
nobd.
,
um 1300
):
sol ich [...] | Nimmer keinen man bestan | Iz sol nach ewerē willen ergan | Vnd mvz also sin.
Henisch (
Augsb.
1616
):
staub vnnd asch sind wir / weil wir leben / staub vnd asch muͤssen wir wider werden / biß [...].
Sievers, Oxf. Benedictinerr. .
Vgl. ferner s. v. .