erleiden,
V., unr. abl.;
eng vernetztes Bedeutungsfeld mit unscharfen Übergängen; gelegentlich ohne semantische Distinktivität refl. verwendet.
1.
›eine als negativ bewertete Bezugsgegebenheit ohne Möglichkeit der Einflussnahme erleben, erfahren, durchmachen; einem zeitlich begrenzten negativen Geschehen (z. B. Krieg, Gefangenschaft, Verfolgung) bzw. dessen Auswirkungen wehrlos ausgeliefert sein und dadurch körperlich, psychisch, materiell geschädigt werden‹; in Verbindung mit Bezugsgrößen, die ein punktuelles gewaltsames Einwirken auf den menschlichen Körper (Schlag, Stoß, Stich) beinhalten, mit der Tendenz zur Bildung von Funktionsverbgefügen; in 1 Beleg refl.;
vgl.  48, zu
1
(V., unr. abl.) 1.
Phraseme:
den tod erleiden
.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  9,  2, (V.) 9.
Syntagmen:
etw
. (z. B.
den puf / stos / streich, die anfechtung / arbeit / dienstbarkeit / gefängnis / helle / not / pein / trübsal / ungerechtigkeit / verfolgung, das geschrei / unwetter / verderben, die kosten, x fl. schadens
)
e
.,
etw. am leib, herzen e
.

Belegblock:

Luther, WA (
1528
):
was wird wol dis weib alhie fur ein puff an yhrem hertzen erlitten haben?
Ders. Hl. Schrifft.
Apg. 27, 18
(
Wittenb.
1545
):
da wir gros Vngewitter erlitten hatten
[
Mentel
1466:
do vns [...] anlagen
].
Karnein, Salm. u. Morolf
309, 5
(
srhfrk.
, Hs.
um 1470
):
ich wolte uch fremde mere sagen, | was ich in der judischeit | und inn der heidenschafft erlitten haben!
Wunderlich, Fierrabr.
9, 3
(
Simmern
1533
):
vnd erlitten manchen harten streych / von des wegen mein gesel Oliuier toͤdlich verwundt ist worden.
Franz u. a., Qu. hess. Ref.
3, 303, 28
(
hess.
,
1561
):
er hat in der zeit ihrer gewalt und verdriebung halber uber 200 fl. schadens erlüden.
Thür. Chron.
21v, 29
(
Mühlh.
1599
):
Die drinnen / erhielten sich vnd die Stadt biß an dritten Tag / vnnd erlidten von den Sachssen grosse Noth.
Kehrein, Kath. Gesangb. (
Bautzen
1584
):
Denen die [...] | Anfechtung, gfengnuͤs, truͤbsal, gschrey, | Verfolgung [...] | Erleiden viel auff dieser Erd, | Gott helff in tragen solch beschwerd.
Ebd. (
München
1586
):
Wir dancken dir Herr Jesu suͤeß, | Was du erlitten hast, | Da dich Pilatus geißeln hieß.
Ebd. (
Nürnb.
1631
):
Den Todt er nun erliedten hat, | Vmb aller Menschen Missethat.
Päpke, Marienl. Wernher (
halem.
,
v. 1382
):
Ain mensch lang besessen was | Von túveln vil, und hette das | Erlitten von in mænige pin.
Chron. Augsb. Anm. 3 (
schwäb.
,
1555
/
61
):
Jn disem langwirigen und schweren kriege [...] haben sich die kauffleute [...] über die maßen vil erleiden muessen.
Munz, Füetrer. Persibein
315, 5
(
moobd.
,
1478
/
84
):
vil arbait het si auf ir rais erliten.
Schönbach, Adt. Pred. ;
Engel, Rats-Chron. Würzb.
55, 1
;
Köbler, Stattr. Fryburg ;
Klein, Oswald
59, 20
;
Vgl. ferner s. v.  2.
2.
›dauerhaft an / unter jm. / e. S. (z. B. unter Sehnsucht, Kummer, Krankheit) leiden‹; Spezialisierung zu 1.
Bedeutungsverwandte:
 7,
1
(V., unr. abl.) 1,
1
 20; vgl.  3,  6.

Belegblock:

Tittmann, Schausp. 16. Jh. Ayrer. Phaenicia
231, 182
(
Nürnb.
1618
):
so viel herzleids hab ich erliden.
Williams u. a., Els. Leg. Aurea
29, 25
(
els.
,
1362
):
irre muͦter [...], die vier ior den siechtagen des bluͦtes hette erlitten.
Kurrelmeyer, Dt. Bibel (
Straßb.
1466
):
ein weip die do hett derlitten
[
Lang
1521:
geliden
; nd. Bibel 1478 /
Luther
1545, Mt. 9, 20:
gehabt
]
den heimlichen siechtum xii iar die gemacht sich hinderwarts.
Lauater. Gespaͤnste
26r, 4
(
Zürich
1578
):
so wurde er [der geist] vß der grossen pyn / die er nun 160. jar erlitten hette / gar erloͤßt.
Chron. Augsb. (
schwäb.
, zu
1558
):
Die beschwerung [...] so bishero das gottshaus [...] erlitten und tragen hat, auf das kürtzest articulsweis angetzaigt.
Klein, Oswald
1, 28
(
oobd.
,
1421
):
mein leib hat vil erlitten | nach ir mit seinklichem hass.
3.
›etw. (freiwillig / notgedrungen) erdulden, auf sich nehmen, über sich ergehen lassen‹;
vgl.  8,
1
(V., unr. abl.) 2.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  12,  1, ,  10.
Wortbildungen:
erleidung
›Zulassung, Duldung‹ (dazu bdv.: vgl. , ).

Belegblock:

Luther, WA (
1525
):
dieweyl er ynn dem erkentnis des Euangelij verschieden ist, von wilches wegen er disse jar viel erliden hat, so hoffen wyr, das er ynn Christo entschlaffen sey.
Ders., WA Br. (
1540
/
2
):
welchs korn der schulmeister mit muhe vnd vnkost [...] mit erleidung vhiler vnnutzer wort mus einbrengen.
Williams u. a., Els. Leg. Aurea
658, 6
(
els.
,
1362
):
Do er [Hieronymus] vier ior dise hertekeit erleit do kam er wider gen Betleem.
Anderson u. a., Flugschrr.
18, 4, 30
([
Straßb.
]
1523
):
Ein yeder Christ sol hunger / durst / marter / tod / hell / vnd alles übel ee erleiden / dañ er Christum vnd seines worts verleügne.
Schib, H. Stockar
134, 5
(
halem.
,
1520
/
9
):
und hain ich mich wol müsen erliden under denen groben lütt und botten.
4.
›physische oder psychische Belastungen (z. B. durch Gestank, Lärm, Schmerz) konstitutionell aushalten, ertragen (können), überstehen, mit etw. / jm. (auch: mit einer Gruppe) fertig werden‹; in religiösen Kontexten auch bezogen auf die menschliche Unzulänglichkeit in der Begegnung mit Gott und anderen metaphysischen Erscheinungen; gelegentlich ütr. auf Sachgrößen: ›etw. vertragen‹;
vgl.  8,
1
(V., unr. abl.) 5.
Bedeutungsverwandte:
 2; vgl.
1
 1, ,  2,  2.
Syntagmen:
etw
. (z. B.
die krankheit, das angesicht / scheiden / schneiden
[im Sinne eines chirurgischen Eingriffs]
, den zorn gottes, das geschrei der teufel
)
e. (mögen)
,
arbeit mit dem leib e
.,
etw
. (Subj.)
etw. e
. (z. B.
der acker die sat, der luft die kälte, die augen den schein, der wein die weite fure, der leopard den smak des knoblauchs, das herz den stank der sünden
),
etw
. [wie] (z. B.
wol
)
e
.,
e., das [...]
.

Belegblock:

Luther, WA (
1527
):
Daruͤmb ist es eine grosse gnade, das er lesset den gemeynen poͤfel wenig haben, sonst wirds so ungezogen, das niemand kan erleiden.
Ebd. (
1528
/
9
):
der Mensch kan alles erleiden, alleine gute tage nicht.
Quint, Eckharts Pred. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
Ez ist ein vrâge und ist swære ze berihtenne, wie diu sêle erlîden müge, daz si niht enstirbet, dâ sie got in sich drücket.
Keil, Peter v. Ulm
126
(
nobd.
,
1453
/
4
):
Wenn er derswitz in dem pad, so reib er sich mit dem pfeffer, piß er es nymmer erleyden mag.
Ebd.
243
:
laß es sieden vnd dornach laß es kuel werden, daz man es erleiden mug, vnd setz den siechen dorauf, so get der darm selber ein.
Lauchert, Merswin (
els.
,
1352
/
70
):
die aller schoͤnesten minnenclichesten ivnchfrowen [...] worent so gar durchglestig schoͤne daz mich dvhte, das ich irre anegesihte kvme erliden moͤhte.
Williams u. a., Els. Leg. Aurea
146, 29
(
els.
,
1362
):
Ich bin in grossem leide, wenne ich mag kúme der túfel geschre erliden.
Cirurgia H. Brunschwig (
Straßb.
[
1497
]):
Ob es aber sach were das [...] der mensch das schniden schreckēs halp nit moͤcht erlidē So gebürt sich dz du im disen dol trāck zuͦ trincken gist.
Stammler, Berner Weltger.
48
(
ohalem.
,
1465
):
Wie soͤnd erliden vnser oren | Den jemerlichen gottes zorn?
Maaler (
Zürich
1561
):
Ein acker alle jar Bauwfaͤhig / der alle jar ein bauw vnnd saat erleyden mag / den man alle jar saͤyet.
Dreckmann, H. Mair. Troja
45, 8
(
oschwäb.
,
1393
):
und wil dir die bürdiu legen uf deinen rüggen, wann du mit deinem leib vil arbait maht erleiden, daz ich nit getun mag von blödiclait meiner natur.
Bauer, Geiler. Pred.
92, 28
(
Augsb.
1508
):
dass hertz des menschen ist allso edel / das es den stannck der sünden nit erleiden mag.
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. (
oobd.
,
1349
/
50
):
Taw wirt auz gar behendem zartem wäzrigem luft, der sô lind und sô zart ist, daz er die kelten des miteln reichs des luftes niht erleiden mag.
er [der leopard] mag des knoblauches smack niht erleiden.
Weitz, Albich v. Prag
142, 11
(Hs. ˹
oobd.
,
A. 16. Jh.
˺):
doch solt du jn offt speisen, das er die kranckhait erleiden mug.
Hohmann, H. v. Langenstein. Quästio
191, 151
(
moobd.
,
1. H. 15. Jh.
):
Aber yn strengichait irs lebens müg wir yn [den heyling] [...] nicht nachuolgen, nür als vil vns wol mügleich ist vnd wir wol erleyden mügen.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
245, 6201
;
Morrall, Mandev. Reiseb.
140, 22
;
Asmussen, Buch d. 7 Grade
1031
;
Vetter, Pred. Taulers ;
Schmidt, Rud. v. Biberach
57, 1
;
Pfeiffer, a. a. O. ;
5.
›etw. dulden, hinnehmen; sich mit etw. abfinden, zufriedengeben, einverstanden erklären‹; auch: ›etw. erlauben, zulassen‹; auf Personen bezogen: ›jn. (z. B. in einer Position) dulden, gewähren lassen‹; ›sich mit jm. arrangieren, abfinden‹; überwiegend mit Negation;
vgl.  8,
1
(V., unr. abl.) 34.
Bedeutungsverwandte:
 1; vgl.
1
 2,  1, .
Syntagmen:
j
. (z. B.
got, das volk, die bauern / pfaffen / prälaten
)
etw. / jn. e
.,
etw
. (Subj., z. B.
die natur / zeit
)
etw. e
.,
die worte den verstand e
.,
jn
. [wo] (z. B.
im rat, in der steuerstube
)
e
.,
j. sich mit etw. e
,
e., das [...]
.
Wortbildungen:
˹
erleidlich
,
erleidsam
˺ ›erträglich, zufriedenstellend‹ (dazu bdv.: vgl.  2,  2).

Belegblock:

Toeppen, Ständetage Preußen
4, 158, 24
(
preuß.
,
1453
):
dieselben bunde und capitel mogen sich mit dem ayde der erbhuldung nicht erleidenn.
Gropper. Gegenw. (
Köln
1556
):
Darümb seine Goͤtliche wort keinen andern verstandt
[›Deutung‹]
erleiden moͤgen / dan das er [...].
Neumann, Rothe. Keuschh.
197
(
thür.
,
1. H. 15. Jh.
):
das
[Susannas Steinigung]
en mohte god nicht erliden | unnd erloste sye zu den geziiden.
Baumann, Bauernkr. Rotenb. (
nobd.
,
n. 1525
):
so hetten sie
[die Unruhestifter]
hievor durch unser offen brief [...] gehort, das wir das nit erleyden konten, es were auch ir furnemen zuforderst wider kayserlich mayestat.
damit mir fur mein erlitten scheden tetlich injurien und schmehe ain ander gepurlicher, erleydlicher abtrag oder erstattung beschehe.
on das
[ein Zugeständnis]
könnte man ine zum ewssern rat und in der stewrstuben nit erleyden.
Päpke, Marienl. Wernher (
halem.
,
v. 1382
):
Das
[eine öffentliche Verhaftung Jesu]
hetti nút das volk erlitten, | Sú hettint fúr in do gestritten.
Adomatis u. a., J. Murer. Hest.
14
(o. O.
1567
):
Daß sy sich nemmind an der sitten | Es wirt in dlaͤnge nit erlitten.
Chron. Augsb. (
schwäb.
,
1523
/
7
):
die edelleut [...] steurten die pauren täglich, das die pauren nicht erleiden mochten, und gewunen vil schlos und plünderten sie.
er was fast auff des Luthers seitten, also mochten in die pfaffen nicht erleiden.
Eis, Wahrsagetexte
68, 4
(
bair.
,
15. Jh.
):
vil obs wirt vnd die frucht werdent erlaitsam.
Roth, E. v. Wildenberg (
moobd.
,
v. 1493
):
Der fürst uberlegt die klöster [...] gar swärlich mit jägern und valcknern nach den französischen siten, das die prelaten nit erleiden mochten.
Küther, UB Frauensee
415, 23
;
Anderson u. a., Flugschrr.
1, 5, 7
;
Rapp, UB Stuttg. ;
Dirr, Münchner Stadtr. ;
6.
›etw. / jn. nicht mögen, ungern sehen‹; oft scherzhaft-ironisch bzw. polemisch; als Spezialisierung zu 5 auffassbar.
Bedeutungsverwandte:
vgl. .

Belegblock:

Anderson u. a., Flugschrr.
11, 3, 24
([
Leipzig
1521
]):
deyn hochtrabender geist [...] kan nith erleiden / das yemand etwas wider yn red oder schreib.
Sachs (
Nürnb.
1550
):
Fraw Warheyt, wer künd dich erleyden?
Bolte, Pauli. Schimpf u. Ernst (
Straßb.
1522
):
Mancher Man mag seiner Frawen Zungen nit erleiden, darumb etlich mit irer Frawen Zungen geschimpfft haben.
Roloff, Brant. Tsp.
426
(
Straßb.
1554
):
Und hoͤren was er
[Gott]
euch fürhalt | Dann er gar nit erlyden mag | Das sich fraw Tugendt also klag.
Maaler (
Zürich
1561
):
Etwas vngern haben / vnnd kaum moͤgen Erleyden.
Turmair (
moobd.
,
1522
/
33
):
Die Gallen [...] hieten oft mit den Germannen [...] ein aufheben tan und gehabt; aber si hieten ir wild greulich zornig angesicht, grosse grobe prinnende polzaugen nit erleiden mügen.
7.
›eine Summe Geldes aufbringen (können), in der Lage sein, eine geforderte Zahlung zu entrichten‹;
zu  3,
1
(V., unr. abl.) 6.
Bedeutungsverwandte:
vgl. (V.) 12.

Belegblock:

Köbler, Ref. Franckenfort
72, 12
(
Mainz
1509
):
Setzen vnd woͤlle͂ wir / dz alßdañ die selben fürsprechen jren parthyen jren gerichts costen deßhalben erlitten ablegen.
Chron. Strassb. (
els.
,
A. 15. Jh.
):
do wurdent also vil nuwer zölle ufgesetzet, das es die kouflüte [...] nüt möhtent erliden.
Maaler (
Zürich
1561
):
Kosten Erleyden.
Chron. Augsb. (
schwäb.
,
1536
):
es kam das leder in ain so hochs gelt, daß wir es nit wol erleiden kunden, dann wir sonst mit der andern (teurung) [...] vilfeltig beschwert warent.
8.
›für ein Vergehen bestraft werden, etw. büßen‹;
vgl.  4,
1
(V., unr. abl.) 7.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  3,  4, ,  2.

Belegblock:

Maaler /v (
Zürich
1561
):
Erleyden [...] Die straaff Erleyden / Gestraafft syn. [...]. Sich in ein straaff geben.
Weber, Füetrer. Poyt.
331, 5
(
moobd.
,
1478
/
84
):
Er hat erliten gnŭeg für dise schullde, | nw ratet meiner frawen klar, | das si dem hellden wider geb ir hullde.