entgehen,
V., unr. abl.
1.
›sich von wo entfernen, weggehen; jn. verlassen‹; in letzterer Nuance im Übergang zu: ›vor jm. (meist einem Höhergestellten) weglaufen‹; vereinzelt: ›durchgehen‹ (z. B. von einem Pferd gesagt); ütr.: ›sich vergehen, von rechtlichen Normen abweichen‹; in der Mystik speziell: ›sich in seinem inneren Streben vom eigentlichen Selbst entfernen, von Gott abfallen, etw. verfehlen‹;
vgl.  2a; 6,  79.
Phraseme:
sich jn. entgehen lassen
›jn. entkommen lassen‹.
Bedeutungsverwandte:
 6,
1
 12, ,  3,  1; vgl.  1.
Gegensätze:
.
Syntagmen:
ein pferd jm., ein esel dem müller e., der mensch, die sele sich e., der knecht, die frau dem herren e
.;
die sele der ewigkeit e
.
Wortbildungen:
entgangenheit
›Entrückung, Ekstase‹,
entgehung
›Weggang, Emigration‹.

Belegblock:

Große, Schwabensp. (Hs. ˹
nd.
/
md.
,
um 1410
˺):
vntget aber eyn knecht sinem heren, her ne sol im nicht lo
e
nes geben.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
152, 3365
(
Magdeb.
1608
):
Da war es zeit das ich entgieng / | Ehe ich den Tod zu lohn empfieng.
Quint, Eckharts Pred. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
Diu sêle [...] enkan [...] von ir selber ze ir selber niht gelangen, sô verre ist si sich entgangen, und ê daz si got hât understanden.
Loesch, Kölner Zunfturk. (
rib.
,
1498
):
of emantz van burgeren [...] sich dainne untgeinge [...], dat der ouch sulchen [...] boisse geven [...] sulde.
Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
1042
(
mrhein.
,
um 1335
):
lestu [pylatus] Iesum dir ingan, | der keyser zornet es wider dich.
Sermon Thauleri
2ra, 22
(
Leipzig
1498
):
So ist der lauff yr [sele] vast geringe vnd bereitt außtzulauffen in dy synnelichen ding vnd entgehet der ewikeit.
Bihlmeyer, Seuse (
alem.
,
14. Jh.
):
So sich ein mensch mit einem inker zuͦ der warheit wil fuͦgen, so lúhtet im in dú entgangenheit sin selb.
Bolte, Pauli. Schimpf u. Ernst (
Straßb.
1522
):
Einem Ritter entgieng sein Pfert, das er zuͦ weit in dy Feind kam.
Maaler (
Zürich
1561
):
Meinem herren ist sein frauw Entgangen.
Entgon / Sich heimlich hinwaͤg schleichen.
Siegel u. a., Salzb. Taid. (
smoobd.
,
1585
):
Entgeeung halber ausser lands
(Überschrift).
Peil, a. a. O.
554, 1504
;
Quint, Eckharts Trakt. ;
Grosch u. a., Schöffenspr. Pössneck
244, 33
;
Vgl. ferner s. v. , .
2.
›jm., einer bedrohlichen, gefährlichen, unangenehmen Situation entfliehen, entkommen‹; auch: ›etw. Gefährliches, Unangenehmes vermeiden‹; teils ütr.;
in rechtlichen Kontexten offen zu 3; vgl.  2a; 6,  79.
Bedeutungsverwandte:
 5, ,  12,  12,  1,  1, .
Gegensätze:
 2.
Syntagmen:
j
. [wo herum]
e
. (absolut);
j
. (z. B.
Jesus, der gerechte / sünder, ein kardinal
)
/ etw
. (z. B.
fische
)
jm. / e. S. e.,
z. B.
j. dem teufel / tod / unglük / wolf / zorn, der anfechtung / angst / betrügnis / helle / krankheit / listigkeit / not / strafe / sünde, dem henken e., der glaube der angst e., j
. [woraus] (z. B.
aus dem gefängnis
), [wohin] (z. B.
auf das schlos
)
e
.;
(jm.) mit dem leib, mit listen e
.

Belegblock:

Luther, WA (
1533
):
Wer aber dem tod entgangen [...] ist, [...] der ist auch dem andern allen entgangen.
Ders. Hl. Schrifft.
Spr. 12, 13
(
Wittenb.
1545
):
Der Böse wird gefangen [...] Aber der Gerecht entgehet
[
Mentel
1466:
entpfleucht
; nd. Bibel 1478 /
Eck
1537:
schal / würdt entflyen
;
Froschauer
1530:
zeücht sich uß
]
der angst.
Ebd.
Jer. 11, 11
:
Jch [HERR] wil ein Vnglück vber sie gehen lassen / dem sie nicht sollen entgehen
[
Mentel
1466:
ausgeen
]
mügen.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
134, 2814
(
Magdeb.
1608
):
Wenn [...] | [...] jhr nichts mehr seht / denn den tod / | Wie entgeht jhr derselben noth?
Chron. Köln (
rib.
, Hs.
1. H. 15. Jh.
):
wart hie [van Cleue] ouch geuangen da, | so entgeinck hie andersswa.
Froning, Alsf. Passionssp.
772
(
ohess.
,
1501ff.
):
furet en [teuffer Johan] [...] | in eyn gefenckniß alßo hart, | das he uns daruß nit moge entgan!
Thür. Chron.
16v, 4
(
Mühlh.
1599
):
Arrius der grosse Kaͤtzer [...] eines schendlichen Todes starb / vñ ohn Zweiffel der Hellen nicht entgangen ist.
zu Dohna u. a., Staupitz/Scheurl
217
(
Nürnb.
1517
):
ist die erst kunst, des teufels betrignus und listikeit zu entgeen.
Lemmer, Brant. Narrensch.
38, 9
(
Basel
1494
):
Wer will der kranckheyt bald entgan | Der soll dem anfang widerstan.
Grossmann, Unrest. Öst. Chron. (
oobd.
,
3. Dr. 15. Jh.
):
Ain cardinal [...] ist dem hengkhen khaumb entgangen.
Bauer, Haller. Hieronymus-Br.
15, 25
(
tir.
,
1464
):
darinn
[im
leben
]
[...] kain stund nicht ist, darinn der lëbentig [...] engën müg dem schmërczen.
Thiele, Minner. II,
23, 67
;
26, 211
;
Quint, Eckharts Trakt. ;
Harms u. a., Alberus. Fabeln
52, 29
;
Neumann, Rothe. Keuschh.
3399
;
Hoffmeister, Kuffstein. Gef.
A viijr, 12
;
Stammler, Berner Weltger.
919
;
Wackernell, Adt. Passionssp. St. II,
2190
;
Vgl. ferner s. v.  2,  1,  12,  3, ,
3
 20,  9, ,  3.
3.
›eine Anklage abwehren, widerlegen; sich einer Anschuldigung vor Gericht entledigen, seine Unschuld beweisen‹;
zu  3a, vgl.  13.
Rechtstexte.
Bedeutungsverwandte:
 3; vgl.  1.
Syntagmen:
j. e
. (absolut);
j. js. / e. S
. (Gen.obj. d. P. / d. S.)
e
.;
j. jm., einer schuld e
.;
j. mit jm
. (z. B.
mit gezeugen, erhaften leuten
) [wie] (z. B.
mit recht, mit seines selbs hand, mit einem eid
)
e. S
. (Gen.obj., z. B. pronominales
es
)
e
.

Belegblock:

Leman, Kulm. Recht (
Thorn
1584
):
Wirt her
[Richter]
von dem voyte dorumme
[wegen Verzögerung des Urteils]
beclayt myt getzugen. so mus her myt getzugen entgen.
des
[Vorwurfs des
totslags
]
ist dy vrouwe nehir tzu entgeende selb sebende myt erhaften luten.
Behrend, Magd. Fragen (
omd.
,
um 1400
):
Wellen abir dy ratmanne das nicht uff sy behalden, so mogen yene das weigern unde entgehen mit irem rechte.
Grosch u. a., Schöffenspr. Pössneck
231, 24
(
thür.
,
1474
):
so ist der genante Hans Muel der schult met synes selbist hant neher zcu entgehende, danne Claus Wolbrün.
Ebd.
315, 15
:
so mochte Mertin Gotcze in antwerters stat deme genanten Hannßen Mollere [...] entgehen unde bewißlichen machen, wy [...].
Piirainen, Stadtr. Sillein
72b, 16
(
sslow. inseldt.
,
1378
):
wirt ein man wunt vnd [...] brı̄get yn [den man] fuͤr gericht [...] er ist neher yn czu vͤber winden denn sein iener engen muͤge.
Große, Schwabensp. ;
Grosch u. a., a. a. O.
250, 6
;
Kisch, Leipz. Schöffenspr. ;
Piirainen, a. a. O.
67a, 7
;
Buchda, Schöffenspr. Pössneck
4, 95
;
Cirullies, Rechtsterm. Anh.
1981, 138
.
4.
›jm. verloren gehen, nicht zuteilwerden; vergehen, verschwinden, ausgehen‹; von Bezugsgrößen verschiedenster Art (z. B. von Gegenständen, Kräften, Zuständen, Vorgängen, Abstraktidentitäten) als Subj. d. S. gesagt; meist ütr. auf abstrakte Bezugsgrößen; im Einzelnen z. B.: ›ausfließen, entweichen‹ (von Flüssigkeiten); ›schwinden‹ (von der Farbe, vom
geist
); in 1 Beleg: ›wegrollen‹ (von einem Fass);
vgl.  2a; 6,  715.
Phraseme:
die folge jm. entgehen
›bei anderen keinen Glauben, kein Gehör finden‹;
jm. der leib entgehen
›Schwindsucht bekommen‹.
Bedeutungsverwandte:
 3, ; vgl.  19,  2.

Belegblock:

Strehlke, Nic. Jerosch. Chron. (
preuß.
,
um 1330
/
40
):
Dî varwe in [cleidirn] vil gar intgât, | ob man sî widir waschin sol.
Luther. Hl. Schrifft.
3. Mose 15, 16
(
Wittenb.
1545
):
WEnn einem Man im schlaff der Samen entgehet / der sol [...].
Peil, Rollenhagen. Froschm.
564, 1820
(
Magdeb.
1608
):
Wenns Wasser solt dem See entgehen / | [...] | So leckten wir fuͤr duͤrst den Sand.
Ebd.
584, 2480
:
sind in Franckreich / | [...] Krieger [...] | Offtmahls [...] gefangen / | Wenn jhn die Proviant entgangen.
Stackmann u. a., Frauenlob
3, 29, 1
(Hs. ˹
omd.
/
schles.
,
14. Jh.
˺):
Ich swere, ob mir diu volge engêt, | [...] | niht hôher dinc besliezen.
J. W. von Cube. Hortus
111, 20
(
Mainz
1485
):
von den blettern gedru͂cken mit wyn ist guͦt diabericis das ist den der harn entgat an yren willen.
Strauss, A. v. Villanova dt.
168v, 33
(
obd.
, Hs.
1421
):
tzwo aderen hynder den oren, dy sint guͦt gelaßen wem der leyp engangen were.
Chron. Nürnb. (
nobd.
,
15. Jh.
):
es entgieng im das veßlein und stieß im die pain ab.
Bihlmeyer, Seuse (
alem.
,
14. Jh.
):
sin
[des
jungers
]
sinne also entgiengen nach eigener wúrklicher wise.
Williams u. a., Els. Leg. Aurea
232, 35
(
els.
,
1362
):
Vnder disen worten entging ime sin geist vnd waz dot.
Goldammer, Paracelsus
2, 91, 4
(
1530
/
5
):
dann was gott heißt, so entgeht an unser arbeit und nahrung gar nichts.
Chron. Augsb. (
schwäb.
, zu
1524
):
da ist im all sein kraft entgangen.
Peil, a. a. O.
496, 7278
;
Kehrein, Kath. Gesangb. ; ;
Hübner, Buch Daniel ;
Lindqvist, K. v. Helmsd.
3156
;
Drescher, Hartlieb. Caes. ;
Vgl. ferner s. v. ,  2.
5.
›sich ereignen‹;
zu  6,  15.

Belegblock:

Bischoff u. a., Steir. u. kärnt. Taid. (
m/soobd.
,
17. Jh.
):
weilen ain zeit hero grosse ungelegenheiten entgangen und gewesen, [ist].