entfremden,
V.;
vereinzelt mit Metathese.
1.
›jm. etw. widerrechtlich (durch Gewalt, Betrug usw.) wegnehmen, entziehen; jm. etw. stehlen, rauben, etw. zweckentfremden‹; auch: ›jn. enteignen‹; speziell: ›jm. etw. ihm rechtlich Zustehendes verweigern, vorenthalten‹; ›ein Land besetzen‹; ›zu leistende Zahlungen (z. B. Steuern, Zölle) verweigern‹; vereinzelt ütr.; zu  2c.
Gehäuft rechts- und wirtschaftsbezügliche sowie berichtende Texte.
Syntagmen:
(jm.) etw
. (z. B.
die minne, ein erbe / gut / herzogtum / kleinod / mesgewand / pfand / ros / sacrament, geld, kirchen
)
e
.;
j
. (z. B.
ein dieb / diener / räuber, die sarazenen
)
(jm.) etw. e
.;
jn. e. S
. (Gen.obj, z. B.
eines mantels, der steuer, des eigens
)
e
.;
jm
. (z. B.
got, dem bischof, den christen / erben / kindern
)
/ e. S
. (z. B.
dem spital
)
etw. e
.;
etw. aus dem gut, durch dieberei, mit gewalt, von dem orden e
.;
etw. heimliche e
.
Wortbildungen:
entfremder
1 ›Dieb, Räuber‹,
entfremdigung
,
entfremdung
1 ›Diebstahl‹ (dazu bdv.: vgl.  1,  1).

Belegblock:

Luther, WA (
1521
):
das ehr [teuffel] damit uns Christen das heylige Sacrament nehme unnd entfrembdet unnd tzu seyner buͤberey, hon unnd spott gebrauchen moͤcht.
Ebd. (
1524
/
7
):
Stelen ist, [...], wenn ich einem andern etwas neme, das er mir nicht gibt, sondern ich entwende oder entfrembde es heimlich.
Köbler, Ref. Wormbs
329, 7
(
Worms
1499
):
SO einer dem andern pfande [...] wider willen des inhabers demselben entweltigte neme vnd entfrembet.
Kisch, Leipz. Schöffenspr. (
osächs.
,
1523
/
4
):
damit er seinen brudern semplichen das lehengut mocht entfremden und entwenden.
Skála, Egerer Urgichtenb.
81, 14
(
nwböhm.
,
1571
):
die Entfrembdung der Cleider [...] gestehet er.
Mon. Boica, NF.
2, 1, 273, 22
(
nobd.
,
1464
):
was der herrschaft guter zwͦstet vom velde und allen zwͦgehoͤruͤngen, ausz dem guten entpfremdt wirt, [...] das [...].
Baumann, Bauernkr. Rotenb. (
nobd.
,
n. 1525
):
er hab drey samete messgewand [...] empfrembdt.
Fischer, Folz. Reimp.
13, 96
(
Nürnb.
um 1488
):
Erst schaczt der paur gestoln sein ku | Und seins mantels entfrempt darzu.
Rennefahrt, Zivilr. Bern (
halem.
,
1582
):
Fridli St. [...] gestand
[...] das er [...] zwey roß entfrömbdet.
Maaler (
Zürich
1561
):
Entfroͤmbder deß gemeinen gaͤlts / der dz gaͤlt deß gemeinen seckels entragt oder stilt.
Brandstetter, Wigoleis
200, 5
(
Augsb.
1493
):
jr habent dyser maget [...] jren gewin mit gewalte empfrembdet.
Grossmann, Unrest. Öst. Chron. (
oobd.
,
3. Dr. 15. Jh.
):
Die korherren [...] bedachten ir allte freiheit und statutt zu hallten, der sy nye entpfrembt worden.
dem Romischen kunig Maximilian solt wider haimvallen alles, das zu dem haus Osterreich gehortt und in dem krieg davon enntphremdt wer.
Munz, Füetrer. Persibein
186, 7
(
moobd.
,
1478
/
84
):
so wurd entpfrembt mir ewr mynne.
Bischoff u. a., Steir. u. kärnt. Taid. (
m/soobd.
,
16. Jh.
, Hs.
2. H. 17. Jh.
):
wehr ain stecken [...] abbricht, abschlegt, [...] wegtregt, entfrembt oder anders wohin legt.
Ebd. (
nach 1618
, Hs.
1681
):
entfrembdigung der victualien.
Leman, Kulm. Recht ;
v. d. Lee, M. v. Weida. Spigell
56, 26
;
Reichert, Gesamtausl. Messe
5, 27
;
Welti, Stadtr. Bern ;
Drescher, Hartlieb. Caes. ;
Uhlirz, Qu. Wien ;
Piirainen, Igl. Bergr.
34b, 17
;
Dietz, Wb. Luther ;
Vgl. ferner s. v.  1,  4.
2.
›jn. aus einem mit einer anderen Person bestehenden Vertragsverhältnis abwerben, jm. jn. abspenstig machen‹; auch: ›jm. durch Ehebruch den Gemahl / die Gemahlin nehmen‹; speziell: ›jm. einen nahestehenden Menschen nehmen‹ (mit dem Tod als Handlungsträger); Spezialisierung zu 1; zu  2c.
Religiös motivierte und rechtliche Texte.
Bedeutungsverwandte:
 1,  7; vgl.  1,  2,  2,  1, .
Syntagmen:
jm. jn
. (z. B.
den arbeiter / knecht, das gesinde / weib
)
e
.;
der meister jm. den knecht, der ehebrecher jm. das weib, der tod jm. jn. e
.;
jn. aus der stat e
.;
jm. jn. arglistiglich e
.

Belegblock:

Luther, WA (
1529
):
das er yrgend ein ursach neme beide sein weib von sich zuthun und dem andern seins auch zuentfroͤmden.
v. d. Lee, M. v. Weida. Spigell
55, 14
(
omd.
,
1487
):
Bebewt der babst [...] Eÿnem ehbrecher, der eÿnem andern sein weip entfremdet hatt.
Ermisch, Freib. Stadtr. (
osächs.
,
um 1390
):
welch meister den andern synen knecht ader gesinde enpfremdet.
Primisser, Suchenwirt (
oobd.
,
2. H. 14. Jh.
):
Daz raine magt und werde weip | Mit trewen chlagen seinen leip, | Den uns der tot enphremdet hat.
Winter, Nöst. Weist. (
moobd.
,
um 1400
, Hs.
15. Jh.
):
ob ainer dem andern sein diern oder sein kchnecht enphrömbt, der ist zu wandel 72 ₰.
Köbler, Ref. Wormbs
354, 11
;
Gille u. a., M. Beheim
192, 34
;
Winter, a. a. O. ;
Vgl. ferner s. v.  7, .
3.
›sich von etw. negativ Bewertetem lossagen, sich von jm. distanzieren; etw. von sich fernhalten‹; seltener: ›sich von etw. (positiv Bewertetem) abwenden, abspalten, von jm. / e. S. abtrünnig werden (mit dem Ziel, sich einem anderem anzuschließen, dann reziprok zu 2)‹; ›jn. / sich dem Zugriff einer höheren Instanz (z. B. der Obrigkeit) entziehen‹; vereinzelt: ›eine Stadt verlassen, sich von einem Ort entfernen‹; mit reflexivem Gebrauch (vereinzelt mit Umschreibungen); zu  2c.
Verstärkt Texte der Sinnwelt ,Religion‘, seltener Rechtstexte.
Bedeutungsverwandte:
(V.),  34,  6,  5,  1,  3, , , ; vgl.  9.
Syntagmen:
j
. (z. B.
got, die bösen
)
sich (von jm.) e., der mensch sich (von) sich selbst e
.;
sich e. S
. (Gen.obj., z. B.
der sele, aller dinge
)
e
.;
jn. / sich e. S
. (z. B.
dem tauf, der obrigkeit, dem gericht
)
e
.;
sich von jm
. (z. B.
vom herren
)
/ e. S
. (z. B.
vom vaterland, vom schirm des gotteshauses
),
den mut von got e
., subst.:
etw
. (Subj.)
ein entfremden aller bildigkeit sein
.
Wortbildungen:
entfremdekeit
im Beleg wohl ›mystische Selbstentfremdung der Seele‹,
entfremdung
2 ›Entfernung, Vermeidung e. S.‹ (dazu bdv.:  1; ggs.:  5).

Belegblock:

Luther, WA (
1520
):
ßo hab ich doch meynen mütt noch nie alßo von dyr [gott vatter] entpfrembdet.
Quint, Eckharts Pred. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
der ander [himel] [ist] ein entvremden aller bildicheit.
Ders., Eckharts Trakt. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
Swenne sich der mensche selber zemâle ze dem êrsten hât aller dinge entwenet und in entvremdet.
Karsten, Md. Paraphr. Hiob (
omd.
,
1338
):
Und Got sich von den [unkuschen] inphermdet.
Asmussen, Buch d. 7 Grade
1022
(
nobd.
, Hs.
A. 15. Jh.
):
Dovon got [...] | der rainen sel enpfremdet / sich | durch sehslai sache.
Wagner, Erk. Ps.-J. v. Kastl
16, 1
(
nürnb.
,
1. H. 15. Jh.
):
Wie sich der mensch so schedlich [...] enpfremdet hat von dem himlischen vaterland.
Bihlmeyer, Seuse (
alem.
,
14. Jh.
):
als vil sich der mensch entfroͤmdet im selben [...], als vil bestat er in rehter warheit.
In disem wilden gebirge des úbergoͤtlichen [...] da kunt si
[die Seele]
in die togenlichen ungenantheit und in daz wild enpfroͤmdekeit.
Rapp, UB Stuttg. (
schwäb.
,
1492
):
welicher [...] in unser statt [...] zuͦ ainem burger ufgenommen wirt, der sol [...] ain aide sweren [...] nit von hinnen zu ziehen noch sich diser unser statt zuͦ empfroͤmbden.
Wintterlin, Würt. Ländl. Rechtsqu. (
schwäb.
,
um 1600
):
Deßgleichen soll keiner demjenigen, so sich der obrigkeit entfrembdet hette oder wollte, [...] hilf oder herberg geben.
Ruh, Bonaventura
329, 19
(
oschwäb.
,
2. V. 15. Jh.
):
Darumb ist zebetrachten [...], das got [...] hat verhaißen [...]: enpfrömdüng alles vͦbels.
UB ob der Enns
10, 620, 15
(
moobd.
,
1390
):
wellen vns auch von den egenanten herren vnd von der herschaft [...] nicht enpfremden noch entziehen weder mit leib noch mit gut.
Bauer, Haller. Hieronymus-Br.
9, 37
(
tir.
,
1464
):
Aber der Jeronimus, wie wol er seinen geist nicht auf hat geben mit dem marterleichen swërt. so ist er doch des lones der marter nicht enpfhrëmdet.
Jostes, Eckhart
106, 19
;
Kehrein, Kath. Gesangb. ;
Welti, Stadtr. Bern ;
Sappler, H. Kaufringer
16, 171
;
Wintterlin, a. a. O. ;
Brandstetter, Wigoleis
205, 37
;
Cirullies, Rechtsterm. Anh.
1981, 137
.
Vgl. ferner s. v.  3,  1, (V.).
4.
›etw. von e. S. abtrennen, abspalten, loslösen‹; ütr.: ›jn. von etw. abbringen, fernhalten, bei jm. eine Distanzierung von etw. bewirken‹; auch: ›jm. ein Vorrecht entziehen‹; in religiös motivierten Texten je nach Kontext mit einer Zuwendung zu Gott oder einer Abwendung von ihm verbunden, oft mit entsprechender Handlungsverpflichtung; häufig im Passiv ohne Angabe des Handlungssubjekts gebraucht; zu  2c.
Verstärkt Texte religiösen sowie rechtlichen Inhaltes.
Bedeutungsverwandte:
 10, ; vgl.  5,  4,  10,  2.
Syntagmen:
jm. etw
. (z. B.
die geile
)
e
.;
die minne jn. sich selbst e., jn. / etw. von etw
. (z. B.
von dem leben, von der begerung / freiheit / warheit, von allen kreaturen, von den eigenen wegen
)
e., die vernunft von got, die sele von irem wesen, den geist vom leib, von bosheit e., eine stat vom reich, das gemüt von sich selbst e
.
Wortbildungen:
entfremdung
3 ›innere Abhebung, Abspaltung von etw.‹.

Belegblock:

Luther. Hl. Schrifft.
Eph. 4, 18
(
Wittenb.
1545
):
wie die andern Heiden wandeln / in der eitelkeit jres sinnes [...] vnd sind entfrembdet
[
Mentel
1466:
fegrembdet
]
von dem Leben / das aus Gott ist.
Quint, Eckharts Pred. (
E. 13.
/
A. 14. Jh.
):
sol ich nû daz sprechen gotes in mir vernemen, sô muoz ich als gar entvremdet sîn allem dem, daz mîn ist.
Kopp, Volks- u. Gesellschaftsl. (Hs. ˹
pfälz.
,
M. 16. Jh.
˺):
Sentliches leid | ist yetz mein weid, | entpfrembdt ist meins herzens lust.
Baumann, Bauernkr. Rotenb. (
nobd.
,
1525
):
mit erpietung, sich [...] mit aiden zu verpflichten, [...] sie
[die
statt
]
vom reich zu empfrembden.
Kurrelmeyer, Dt. Bibel Var. (
Straßb.
1466
):
La zuͦ dir den fremden vnd er verkert dich in die turmelung: vnd er fremdet
[Var. 1475
2
-1518:
empfrembdet
; nd. Bibel 1478:
vorvremden
, Sir. 11, 36]
dich von dein eigen wegen.
Thiele, Minner. II,
1, 22
(Hs. ˹
nalem.
/
sfrk.
,
1470
/
90
˺):
Mynn heist ein stete gir, | mynn enpfremdt mich selber mir.
Ruh, Bonaventura
357, 11
(
orhein.
,
um 1480
):
daz kein bild liplicher oder siechtbarlicher ding darin [hertz] werde getrucket, vff daz es, entpfrömdet von allen creaturen, fry vnd lidig dem schöpffer möge an hangen.
Schmidt, Rud. v. Biberach
6, 12
(
whalem.
,
1345
/
60
):
Zvͦ dem ersten beschiht es, daz der menschlich geist [...] von dem lip enphromdet wirt.
Ebd.
69, 10
:
Dise vrhebunge, dvͥ etwenne kvmet ze enphroͤmdung des gemuͦtes, beschiht von drin sachen.
Koller, Ref. Siegmunds (Hs. ˹
Augsb.
,
um 1440
˺):
so wer die cristenhait gots und aller seiner gnaden entpfrembt.
man sol in auch pillich entpfremden allen cristenlichen freyhait.
Klein, Oswald
1, 52
(
oobd.
,
1421
):
durch manchen grossen überlast | emphrembt si [büss] mir die gail.
Schmidt, a. a. O.
69, 23
;
116, 26
;
Boos, UB Aarau ;
Sappler, H. Kaufringer
26, 29
;
Koller, a. a. O. ;
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. ;
Bauer, Haller. Hieronymus-Br.
66, 45
;
5.
›jm. etw. übergeben, übertragen, etw. (aufgrund finanzieller Not) veräußern, aufgeben‹ (meist von Gütern, Landstücken usw. gesagt); zu  2c.
Rechts- und Wirtschaftstexte.
Syntagmen:
etw
. (z. B.
ein gut, äcker
)
e., jm. etw
. (z. B.
ein pfand
)
e
.;
etw. ane js. willen e
.
Wortbildungen:
entfremder
2 ›Verkäufer eines Guts‹,
entfremdung
4 ›Verkauf einer Ware‹ (dazu bdv.: ); 5 ›Weihegeschenk an heidnische Götter‹.

Belegblock:

Grosch u. a., Schöffenspr. Pössneck
77, 5
(
thür.
,
1474
):
Darumbe habin syne sweger [...] keyne macht gehabt, dy egkere an Heinrichs Roten willen zcu enphremden.
Bindewald, Texte schles. Kanzl.
45, 49
(
schles.
,
1337
):
habin [...] vrie macht, dy ebenantin vier mark geldis czu vorkoufin, czu vorseczin, czu vorwechsiln [...] vn̄ andir wis ouch czu en pfremdin.
Köbler, Ref. Nürnberg
332, 21
(
Nürnb.
1484
):
darzu soll der entpfroͤmbder noch die ihenen den das beschehen were einich prescription oder veriarung nit fuͤrtrage͂.
Dasypodius (
Straßb.
1536
):
entFrembdung / was den goͤttere͂ auff gehencket ist zuͦ einem opffer.
Welti, Stadtr. Bern (
halem.
,
1311
):
Wir hein vil gesehen gebresten, daz semliche luͥte, so sy gelthaft wurdent, ir guͦt von inen gabent vnd entphroͤmten.
V. Anshelm. Berner Chron. (
halem.
,
n. 1529
):
bi hoher straf verboten in stat und land: gotslaͤsterung [...] korns fuͤrkouf und entfroͤmdung.
Schnelbögl, Salb. Karls IV.
100, 31
;
Köbler, a. a. O.
110, 19
;
Rot
308
;
Rwb  f.;
Cirullies, Rechtsterm. Anh.
1981, 137
.