entweichen,
V., unr. abl.,
vereinzelt auch schwach flektiert; zu
vereinzelt ist Formberührung mit mhd.
entwîchen
›zurückweichen, ausweichen‹
(Mwb
f.); 1, 1755
entweichen
(V.) nicht auszuschließen.1.
›vor jm. / e. S. zurückweichen, jm. / e. S. ausweichen, nachgeben, Platz einräumen‹; in rechtlichen Kontexten: ›jm. etw. (z. B. ein Vorrecht, Besitzrecht) einräumen, abtreten, auf etw. verzichten; sich jm. (einer Institution) unterordnen‹; auch ütr. auf abstrakte Bezugsgrößen; zu ent-
2a.Bedeutungsverwandte:
abtreten
abschlagen
ausfaren
ausgehen
1
ausweichen
geben
treten
Syntagmen:
etw
. (Subj., z. B. ein berg
) jm. e., blüten einander, ein wagen dem anderen, der morgen dem mittag, die minne der herzigung
›Begierde‹, das kloster der kirche e
.; jm
. (z. B. dem bruder / oheim
) / e. S
. (z. B. der besitzung, dem erbe
) e., jm. nicht einen
[+ Maßangabe] e
.Belegblock:
Große, Schwabensp.
87a, 22
(Hs. ˹nd.
/md.
, um 1410
˺): deme sal man sinen eit irteilen, daz her swere, daz her ime vntweche dre streche hinder sich oder me.
Ebd.
159a, 21
: ieslich straze [...] sol sexs teyen vuͦze wit sin, daz en wagen deme anderen entwichen moge.
Quint, Eckharts Pred.
2, 187, 7
(E. 13.
/A. 14. Jh.
): dâ entwîchet niht der morgen dem mittentage noch der mittentac dem âbende.
Karnein, Salm. u. Morolf
487, 5
(srhfrk.
, Hs. um 1470
): nu begang dich mit ime wie du macht, | wir entwichent dir nit einen einigen fuß.
Thiele, Chron. Stolle
55, 6
(thür.
, 3. Dr. 15. Jh.
): judas [...] solde bilche syme brudere entwiche unnd undertenig syn.
Gille u. a., M. Beheim
447, 178
(nobd.
, 2. H. 15. Jh.
): er [Anthiochus] maint, im musten so zu hand | entweichen berg, velsen und kliffen, | wa sie die schiff begriffen.
Koller, Ref. Siegmunds
160, 11
(Hs. um 1474
): Im rechten müß ein closter einer pfarkyrchen entweichenn und gehorsam sein.
Schmidt, Rud. v. Biberach
118, 8
(whalem.
, 1345
/60
): ist ,dv́ minne vn vberwintlich, want si entwicht enheiner hertzgung [...]‘.
Hauber, UB Heiligkr.
1, 526, 5
(schwäb.
, 1378
): habin öch wir abt Eberhard an [...] uͥnsers gotzhus statt [...] entwichen und entwichin mit disem brief aller besitzung [...] so wir [...] ie gehept habin.
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat.
270, 17
(oobd.
, 1349
/50
): den dôn oder daz kläppern fürht er [trach] und entweicht und wirt gehôrsam.
Ebd.
321, 6
: des paums holz ist gar hert und entweicht dem feur niht leiht, und sô man ez in ain gar grôz feur legt, sô verprint ez.
Köbler, Ref. Wormbs
87, 16
; Behrend, Magd. Fragen
94, 40
; Gereke, Seifrits Alex.
2880
; Munz, Füetrer. Persibein
250, 5
; Rwb
3, 18
f.; Pfälz. Wb.
2, 913
; Schweiz. Id.
15, 224
; Schwäb. Wb.
2, 742
.‒
Vgl. ferner s. v. bare
2.2.
›verschwinden, (jm.) verloren gehen‹; von konkreten sowie (ütr.) von abstrakten Bezugsgrößen gesagt (z. B. von physischen Zuständen); selten refl.; zu ent-
2a.Bedeutungsverwandte:
faren
entfallen
Syntagmen:
der regen, das leid, die bilder e
. (absolut); etw
. (Subj., z. B. der sin, die barmung / farbe / gesundheit / kraft / macht / zuversicht, das herz
) jm. e., der sattel sich e., j. sich etw. e. lassen
.Belegblock:
Große, Schwabensp.
43a, 38
(Hs. ˹nd.
/md.
, um 1410
˺): der keyser sal deme pawese den stegerep halden, dar vmme dat sich der satel nicht vntwichte
(hier: ›verrutscht‹).
Quint, Eckharts Pred.
2, 606, 1
(E. 13.
/A. 14. Jh.
): Der regen ist entwichen.
Froning, Alsf. Passionssp.
6079
(ohess.
, 1501ff.
): dine macht und dine kraft ist dir ßo gar entwichen!
Hübner, Buch Daniel
4938
(omd.
, Hs. 14.
/A. 15. Jh.
): Da bi was ein armer man | Ouch vor siner pforten plan | Gelegen steteclichen, | Gesuntheit im entwichen.
Sermon Thauleri
13vb, 19
(Leipzig
1498
): Vñ wã nu diß clar liecht leuchtet in der sele. so entweiche͂ alle bild vñ form.
Päpke, Marienl. Wernher
1345
(halem.
, v. 1382
): Ir schoͤnú varwe ir gar entwaich, | Si wart vor grosser schame blaich.
Weber, Füetrer. Poyt.
124, 7
(moobd.
, 1478
/84
): Poytislier, nym an dich mŭet manleichen, | [...] | greiff, schmuck, nicht laß dirs zegleich sunst entweichen!
Bömer, Pilgerf. träum. Mönch
11072
; Henschel u. a., Heidin
734
.‒
Vgl. ferner s. v. abschreiben
3, adelreich
, 1
barmung
1, begeben
6.3.
›von etw. abweichen, abkommen‹ (allgemein); speziell: ›von einer (religiös, seltener: obrigkeitlich) festgesetzten Norm abweichen, von einem als richtig anerkannten Weg abkommen, sich außerhalb einer Rechtsordnung stellen‹; zu ent-
2a.Gehäuft Texte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Bedeutungsverwandte:
austreten
1
abweichen
irgehen
misgehen
Wortbildungen:
entweichung
Belegblock:
Kehrein, Kath. Gesangb.
3, 128, 9
(Köln
1582
): Damit sein [des Sons] eiffer nicht ergrimme, | Vnd ihr dann vnter seinem grimme | Entweichet von der rechten ban.
Kohler u. a., Bamb. Halsger.
153, 3
(Bamb.
1507
): Nachdem sich teglich begibt, das mutwillig person die lewt wider recht betrohen, entweychen vnd aussdretten.
Morgan u. a., Mhg. Transl. Summa
208, 20
(schwäb.
, 14. Jh.
): alle sünde ist von der entwichunge von der ordenung.
Ebd.
324, 11
: von dem man sich versieht, daz ez entwichen si von gotlichem willen [...], daz vellet nah der andern wider in sinen willen.
Bauer, Geiler. Pred.
90, 22
(Augsb.
1508
): dardurch wirt die seel bewegt [...] das sy geleich etlichermaß hindersich zücht und entweicht ab von gott.
Morgan u. a., a. a. O.
42, 26
; 208, 24
.4.
›einen Ort verlassen, weglaufen; jm. / e. S. entfliehen, entkommen‹; in 1 Beleg: ›jn. dem Einfluss einer Obrigkeit entziehen‹; zu ent-
2a.Gehäuft Rechtstexte.
Bedeutungsverwandte:
austreten
entlaufen
entrinnen
faren
entäussern
Gegensätze:
bleiben
Syntagmen:
j
. (z. B. der knecht, die bürger / räuber
) e
. (absolut); jm
. (z. B. got, dem richter
) / e. S
. (z. B. dem gewalt / tod, der not, dem rechten
) e
.; aus dem königreich e
., [wohin] (z. B. in das land Galiläa, zu einem berg
), von js. herschaft, von
[+ Ortsname], von der stat, von dem land e
.Belegblock:
Luther, WA
52, 414, 23
(1544
): Darumb, ob er [Christus] wol seiner ruͦhe halb (wie Marcus sagt) in die Wuͤsten entwichen war.
Große, Schwabensp.
193a, 31
(Hs. ˹nd.
/md.
, um 1410
˺): Sterbe ich oder vntwiche ich von deme lande, so clage der, des id was.
Ermisch, Freib. Stadtr.
59, 7
(osächs.
, Hs. v. 1325
): Ist aber, daz der knecht nicht keinwertik ist unde intwichet, den sal man vercelen uf sinen hals.
Kisch, Leipz. Schöffenspr.
659, 21
(osächs.
, 1523
/4
): Des wolt der nicht tun und entweich dem richter und dem rechten.
v. d. Broek, Suevus. Spieg.
215r, 48
(Leipzig
1588
): das in schweren verfolgungen die Kirchendiener [...] sich verglichen haben / welcher der fuͤrstehenden Noth vnd fahr entweichen moͤchte oder bleiben solte.
Gille u. a., M. Beheim
36, 38
(nobd.
, 2. H. 15. Jh.
): Auf sneller spur | er [Josef] da entwich | hin in das land | Galilea.
Williams u. a., Els. Leg. Aurea
309, 34
(els.
, 1362
): Von dirre geschiht wart daz folk so groslich beweget wider die glissener daz sú muͤstent entwichen von Iherusalem.
Gereke, Seifrits Alex.
2259
(oobd.
, Hs. 1466
): er [chaiser] hies in [Allexander] enttweichen | aus seinen chunig reichen.
Baptist-Hlawatsch, U. v. Pottenst.
109
(moobd.
, A. 15. Jh.
): Ez entweycht dikch ainer ainem gewalte, [...] daz er sich da hin schikchet da er nicht czu pieten hat.
Luther, WA
21, 135, 33
; ders. Hl. Schrifft.
Mt. 2, 14
; Jungbluth, J. v. Saaz. Ackermann
10, 18
; Päpke, Marienl. Wernher
11225
; Welti, Stadtr. Bern
122, 24
; Koller, Ref. Siegmunds
141, 24
; Baptist-Hlawatsch, a. a. O.
163
; Maaler
106v
; Rwb
3, 18
; Schweiz. Id.
15, 224
f.‒
Vgl. ferner s. v. abwegs
1, alzu
3, ausstreichen
8, austreten
4, bandit
1, befestigung
2, begreifen
19, icht
8.5.
›eine Versammlung vorübergehend (z. B. zur Beratung) verlassen‹; Spezialisierung zu 4; zu ent-
2a.Bedeutungsverwandte:
austreten
Wortbildungen
entweichung
austretung
austreten
Belegblock:
Chron. Nürnb.
5, 793, 26
(nobd.
, 1516
): die siben eltern herrn allein nach außtretung und entweichung der andern ein gantzen halben tag rathschlagen müssen.
Chron. Augsb.
9, 151, 31
(schwäb.
, 1544
/5
): Als nun die gesanten der gmaind dem rat entwichen und ausgetreten send, ist [...].
Ebd.
159, 24
: Darauff herr burgermaister Hainrich Herwart abermalen die gesanten der gmaind ain klain (weil) dem rat zu entweichen gepeten hat.
Qu. Brassó
5, 543, 1
(siebenb.
, 1616
): Hierauf hat er [Fürst] uns heissen entweichen, bis er diese Sach mit seinen Räten möge besser abreden.
Rwb
3, 18
.6.
im Bergbau nach R. Paul (vgl. u. a. Belegstellenangabe): ›„die Abbauarbeiten am Ort des Durchschlags zweier Gruben innerhalb einer vorgeschriebenen Distanz einstellen“ (um Streit zwischen benachbarten Grubenbauen zu vermeiden)‹; zu ent-
2a.Fachtexte.
Belegblock:
Piirainen, Stadtr. Kremnitz
9
(mslow. inseldt.
, 1492
): Von löcher mach(e)nn vnd wie ma(n) dauonn entwaich(e)nn soll.
Ders., Recht Schemnitz.
1986, 287
; Paul, Wb. Bergmannsspr.
1987, 167
.