9. Positionen des Wörterbuchartikels. II: Wortvarianten

Unter Wortvarianten sind hier nicht Vorkommensformen von Wörtern im Quellentext gemeint, sondern Formen mit langue-Status, nur daß langue nicht auf die Gesamtsprache / -sprachstufe Frühneuhochdeutsch zu beziehen ist, sondern auf eine oder mehrere ihrer Varietäten, also auf Dialekte, landschaftliche Schreibsprachen, Geschäftssprachen, (landschaftliche) Druckersprachen, Historiolekte, Soziolekte (usw., vgl. 5.1.2.). Demnach müssen die Wortvarianten in einer ähnlichen Weise konstruiert werden wie die Lemmata, nämlich durch linguale und linguistische Prüfung aller Vorkommensformen eines Wortes unter dem Aspekt ihrer Bindung an die Varietäten und durch Ansatz einer nun aber nicht für das Gesamtsystem, sondern für die jeweilige Varietät ausgezeichneten Wortbildungs-, Laut- und Schreibform. Diese Form unterscheidet sich zumindest für alle räumlich und alle zeitlich dimensionierten Varietäten schon wegen deren jeweils (teil)spezifischer phonologischer und graphematischer Systeme ziemlich durchgängig von der Lemmaform; aber auch für die anders dimensionierten Varietäten sind Unterschiede nicht auszuschließen, obwohl nicht systematisch zu erwarten.

9.1. Eine Auflistung der Wortvarianten mindestens nach Dialekten und Historiolekten ist allerdings schon aus Raumgründen nicht möglich; für abenteuer hätte man dann, um nur den Anlaut zu berücksichtigen, z. B. schwäbisch aubenteuer, allgemein oberdeutsch vorwiegendes obenteuer und mitteldeutsches ebenteuer ansetzen müssen; entsprechend hätten die sich aus dem b/v von aben- ergebenden Varianten und das Nebeneinander von älterem -iu- und jüngerem -eu- in -teuer dokumentiert werden müssen, von den Kombinationen zwischen all diesen Erscheinungen einmal abgesehen. Eine solche Auflistung ist aber auch nicht erforderlich: Das Wörterbuch richtet sich vorwiegend an die professionell mit dem Frühneuhochdeutschen Befaßten; von ihnen kann angenommen werden, daß sie in die Texte der Zeit eingelesen sind. Damit verfügen sie auch über ein phonologisch/graphematisches Umsetzungsvermögen7070. Hierzu vgl. Reichmann, Oskar, Deutsche Nationalsprache. Eine kritische Darstellung. In: Germanistische Linguistik 2–5, 1978, 389–423, besonders S. 399., das tendentiell demjenigen ähnlich ist, das es den originalen Sprachbenutzern des Frühneuhochdeutschen ermöglicht haben muß, sich über die sprachinternen lautlichen und schreibsprachlichen Unterschiede hinweg zu verständigen. Am Beispiel: Der heutige Benutzer eines Wörterbuches, der im Text eine Schreibform aventüre findet, wird diese ohne Schwierigkeit auf eine Idealform abenteuer beziehen und sie im Wörterbuch auffinden können. Probleme dagegen wird er mit Formen wie mitteldeutsch ebenteuer oder mit elsässisch belegtem ofentüre haben.

9.2. Damit ist auf die Frage einzugehen, welche Wortvarianten denn nun aus der Menge der gegebenen Möglichkeiten ausgewählt und im Wörterbuch verzeichnet werden. Die Antwort soll erst negativ gegeben, danach positiv versucht werden: Anzusetzen sind einerseits nicht die regelhaften Formen der einzelnen Varietäten und andererseits nicht lautlich-graphische Zufallsformen; dies letztere widerspräche schon obiger Bestimmung von Variante als varietätenspezifisch ausgezeichneter Form. Das soeben beispielhaft genannte elsässische ofentüre erscheint also nicht unter den Wortvarianten; zur Möglichkeit seiner Auffindung vgl. 21.1.2.3. – Anzugeben sind dagegen varietätenspezifische, aber die Einheit des Wortes nicht sprengende Wortbildungsformen im Sinne des im Abschnitt über die wortbildungsmorphologische Lemmatisierung Diskutierten (vgl. 8.1.2. (2'); Beispiel im Wörterbuchtext: abbau), ferner diejenigen varietätenspezifischen Lautungen und Graphien, die entweder auf einzelwortgebundenen Entwicklungen (z. B. Hyperkorrekturen7171. Zur sprachgeschichtlichen Rolle der Hyperkorrektur: Öhmann, Emil, Über hyperkorrekte Lautformen. Helsinki 1960. (Annales Academiae Scientiarum Fennicae B, 123/1.)) beruhen oder nach einzelwortübergreifenden, aber nicht kategorischen (also nach variablen) Regeln zustandegekommen sind. Dies letztere ist z. B. bei allen r-Metathesen (ansatzweise belegt für abbrennen, s. d.), bei allen Epithesen (vgl. abgot mit der Variante abtgot), ferner bei einer westoberdeutsch und mitteldeutsch begegnenden Form von arbeit, nämlich erbeit, der Fall, die auf einem besonderen Umlautfaktor beruht. Möglicherweise ist auch das mitteldeutsche ebenteuer durch einen solchen Umlautfaktor zu erklären. Allerdings kann hier auch ein eigener Entlehnungsvorgang im Spiel sein, nämlich die auf das Mitteldeutsche beschränkte Übernahme einer Vorlage eventura, eventure, während abenteur auf aventura, aventure zurückgeht. Dann läge ein Beispiel für wortbildungsmorphologische Varianz innerhalb der Einheit des Wortes vor. Auch soziosituative Varianz ist nicht auszuschließen; sie wäre z. B. dann gegeben, wenn sich für abenteuer nachweisen ließe, daß es in der Literatursprache des 16. und 17. Jahrhunderts unter Anknüpfung an die Spirans von aventiure zu affenteuer geworden sei. Zur Annahme einer solchen Entwicklung gibt es Gründe (man vergleiche zum Beispiel den Beleg abentür und affenspill, weiteres im Belegmaterial des DWB, Neubearbeitung), sie reichen aber nicht aus, um affenteuer varietätenbezüglichen langue-Status zuzuschreiben, so daß diese Wortvariante im Wörterbuchartikel abenteuer auch fehlt.

9.3. Wortvarianten stehen im allgemeinen direkt hinter dem Lemma, und zwar in einfacher Kursive und in Klammern, damit sie nicht etwa als ein Teil eines Mehrfachlemmas (das ganz in Halbfett gesetzt ist) aufgefaßt werden können; ein Beispiel bildet

arbeit (md. und wobd. auch erbeit).

Falls die Angabe von Wortvarianten ausführlicher ist, sich z. B. mit Andeutungen lautlicher Entwicklungen verbindet, steht sie klammerlos hinter den Angaben zur Wortart und zur Morphologie, damit diese letzteren nicht zu weit vom Lemma abgetrennt werden und dann isoliert wirken würden; man vgl.

abenteuer, die, seltener das; , seltener: -s/-Ø; md. auch ebenteuer, im älteren Frnhd. mit Spirans: aventüre.

Die Angabe von Wortvarianten als varietätenspezifischer Formen ist mit der Zuordnung zu denjenigen Varietäten verbunden, innerhalb deren sie gelten. In den gerade genannten Beispielen sind dies die räumliche Zuordnung md. und wobd. (für erbeit), sowie die räumliche (nämlich md.) und zeitliche (nämlich im älteren Frnhd.) Zuordnung für ebenteuer bzw. aventüre. Alle Wortvarianten erscheinen, um alphabetisch zugänglich zu sein, zusätzlich in folgender Form als Verweislemma.

ebenteuer, s. abenteuer.