3. Der Wörterbuchplan

3.1. Um die erste der aufgezeigten Lücken, nämlich diejenige der gesamtsprachbezogenen Lexikographie, zumindest in vorläufiger Weise zu beheben, faßten die Herausgeber im Jahre 1976 den Plan, ein allgemeines synchrones Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FWB) und zwar ein Bedeutungswörterbuch, zu erarbeiten1414. Man vgl. Robert R. Anderson / Ulrich Goebel / Oskar Reichmann, Projekt eines Frühneuhochdeutschen Handwörterbuches. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 5, 1977, 71–94.. Sein Umfang sollte nach den damaligen Vorstellungen dem Umfang des Lexer grob entsprechen, jedenfalls nicht wesentlich darüber hinausgehen. Die Herausgeber meinten damals, nur durch diese Beschränkung einen Preis möglich zu machen, der dem wirklich Interessierten den Kauf gestattet; sie meinten vor allem, höchstens ein Dreibänder sei in absehbarer Zeit (maximal in 20 Jahren) überhaupt fertigzustellen. Als Vorbilder, die solche Hoffnung begründet erscheinen ließen, dienten Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke, Karl Schiller/August Lübben, einige große Mundartlexikographen des 19. und 20. Jahrhunderts (wie Ernst Martin/Hans Lienhart, Josef Müller, Otto Mensing, Andreas Schmeller) und allen voran natürlich Matthias Lexer, der neben seinen sonstigen Tätigkeiten (z. B. als Textherausgeber) die heute unvorstellbare Leistung erbracht hat, ein zwar dauernd kritisiertes, aber auch nicht ansatzweise ersetztes Wörterbuch nach vorangehenden Sammlungen in 6 Jahren publiziert zu haben. Was im 19. Jahrhundert möglich war, dürfte – so sollte man jedenfalls meinen – heute nicht unmöglich sein. Natürlich war den Herausgebern schon damals bewußt, daß das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch ein ehrgeiziges oder gar ein verwegenes Unternehmen ist, dem von Anfang an tödliche Gefahren drohten: die Belastung von Herausgebern und Bearbeitern durch den Universitätsbetrieb, völlig unzureichende finanzielle Mittel insbesondere für studentische Hilfskräfte, die Tatsache, daß heute eigentlich keinerlei Finanzierungsmöglichkeit1515. Dieses Urteil ist insofern partiell zu widerrufen, als das Land Baden-Württemberg im März 1985 die Heidelberger lexikographischen Unternehmen als förderungswürdigen Forschungsschwerpunkt anerkannt und dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch für die Dauer von 5 Jahren sogar eine wissenschaftliche Angestelltenstelle zugewiesen hat. längerfristiger geisteswissenschaftlicher Forschungsvorhaben über Drittmittel besteht, schließlich aber auch gegenstandseigene Gefahren, wie die Menge der zu berücksichtigenden Quellen, sowie durch den heutigen linguistischen Forschungsstand bedingte Gefahren. Insbesondere zu letzterem sollte man sich stets vergegenwärtigen, daß jeder Fortschritt der linguistischen Theorie die wissenschaftliche Energie von Forschern bindet und bei der immer drohenden Lösung der Theorie vom Gegenstand die Forschungspraxis erheblich verzögern, vielleicht sogar verhindern kann, ohne daß andererseits noch die Möglichkeit bestünde, die Theoriediskussion als praxisirrelevant unbeachtet zu lassen und sich ausschließlich praktischer Forschung zu widmen.

3.2. Wenn die erste Lieferung des geplanten Wörterbuchs erst rund 10 Jahre nach Planungsbeginn erscheint, dann liegt darin bereits das Eingeständnis, daß die ursprünglichen Zeitziele nicht einzuhalten waren. Dies wurde den Herausgebern spätestens nach Beginn der Exzerptionstätigkeit bewußt. Die Exzerption wurde im Jahre 1979 nach den in den Jahren 1977 und 1978 von U. Goebel und R. R. Anderson erstellten alphabetischen Wortlisten (vgl. 6.1.) von O. Reichmann in normaler lehrstuhlgebundener Forschung begonnen, und zwar zunächst für den Buchstaben a; sie erwies sich trotz dieser Beschränkung als so zeitaufwendig, die zu erwartenden Ergebnisse als so aufschlußreich, damit auch die Schätzung des Umfangs auf drei Bände als so offensichtlich zu niedrig, daß eine völlige Neukonzeption der Wörterbuchorganisation notwendig wurde. Zwei Möglichkeiten boten sich an, wenn das Ziel, das Wörterbuch in überschaubarer Zeit fertigzustellen, nicht aufgegeben werden sollte.

3.2.1. Erstens hätte versucht werden können, das Wörterbuch bei einer Akademie unterzubringen. Angenommen, dieser Versuch wäre gelungen – was bei der Schwierigkeit, neue Stellen zu erhalten, bereits unwahrscheinlich gewesen wäre –, so hätten die Herausgeber das Vorhaben de facto in andere Hände gelegt, wozu sie auf keinen Fall bereit waren.

3.2.2. So blieb nur die zweite Möglichkeit, die allerdings in der Geschichte deutscher Wörterbücher bisher nie praktiziert wurde. Nach ihr erstellt einer der Herausgeber, i. c. O. Reichmann, den ersten Band gleichsam als Muster für das Gesamtwerk. Spätestens nach Erscheinen von dessen erster Lieferung können die für die anderen Bände vorgesehenen Bearbeiter bzw. Bearbeitergruppen mit der Vorbereitung der von ihnen übernommenen Wörterbuchstrecke, idealiter jeweils eines Bandes, beginnen. Sie erhalten dazu von den Herausgebern die Aufbereitung (alphabetische Schreibformenlisten) des gesamten Quellenmaterials sowie alle notwendigen und formulierbaren lexikographischen und redaktionellen Richtlinien. Sie haben dann die Möglichkeit, ihre Strecke in eigener zeitlicher Verantwortung zu gestalten und jeweils in Lieferungen zu publizieren. Die einzige zeitbezügliche Auflage besteht darin, den übernommenen Band vor 1995 abzuschließen. Diese Möglichkeit scheint realisierbar, unter anderem dank der Tatsache, daß der Verlag der vorgesehenen Publikationsform zugestimmt hat.

3.2.3. Das Verfahren birgt selbstverständlich erhebliche Risiken; insbesondere wird die Homogenität des Gesamtwerkes trotz vorgegebener Quellengrundlage und trotz noch so ausgefeilter Bearbeitungsrichtlinien nicht den Grad erreichen, den ein Einzelbearbeiter garantieren könnte. Dieser Nachteil muß in Kauf genommen werden. Andererseits liegen die Vorteile auf der Hand: Ein auf zehn Bände angelegtes Werk könnte großzügig gesagt in einer Forschergeneration fertig werden; lexikographische Arbeit würde aus den oft sehr abgeschlossenen Wörterbuchkanzleien in die Germanistischen Seminare verlegt; damit würde die für unsere Universitäten konstitutive Einheit von Forschung und Lehre in die Praxis umgesetzt; Kollegen und mitarbeitende Studenten würden an sprachlichem Material praxisbezogen arbeiten; das den Bandbearbeitern übergebene Quellenmaterial stünde an mehreren Stellen auch für nichtlexikographische Arbeit zur Verfügung; mindestens einer der Herausgeber würde durch die Bearbeitung einer eigenen Wörterbuchstrecke über den gesamten Stock an Erfahrung verfügen, die als eine der Voraussetzungen für so etwas wie Autorität unumgänglich ist. Es wird sich zeigen, ob es rund zehn Wissenschaftler gibt, die bereit sind, jeweils rund zehn Jahre ihres wissenschaftlichen und privaten Lebens in den Dienst eines Wörterbuches zu stellen, von dem die Herausgeber hoffen, daß es einige „Haltbarkeit“ haben wird.